Wallander 04 - Der Mann, der lächelte
verfügen wir nicht. Und die, die nach uns kommen, junge Leute wie du, haben noch zu wenig Einfluß auf die Arbeit, auf das Setzen von Prioritäten. Oft hat man den Eindruck, daß die Kriminellen ihren Vorsprung ungehindert ausbauen können. Und die Gesellschaft reagiert darauf, indem sie die Statistik manipuliert. Fälle werden nicht mehr gelöst, sondern einfach abgeschrieben. Was vor zehn Jahren noch als kriminelle Handlung galt, wird heute als harmloses Vergehen angesehen. Die Verschiebung geht täglich weiter. Wofür man gestern noch bestraft wurde, gilt heute schon als Kavaliersdelikt. Bestenfalls wird ein Bericht geschrieben, der dann irgendwo in einem Reißwolf verschwindet.«
»Das kann nicht gutgehen«, sagte sie zögernd.
Wallander warf ihr einen Blick zu. »Wer hat je behauptet, daß es gutgehen würde?«
Sie hatten Landskrona hinter sich gelassen und näherten sich Malmö. Ein Ambulanzwagen mit Blaulicht überholte sie mit hoher Geschwindigkeit. Wallander war erschöpft. Er wußte nicht, weshalb, aber die junge Frau neben ihm tat ihm einen Augenblick lang leid. In den kommenden Jahren würde sie ständig gezwungen sein, ihre Arbeit als Polizistin in Frage zu stellen. Weil sie über außergewöhnliche menschliche Qualitäten verfügte, würde es ihr nicht erspart bleiben, ihren Job als eine Kette von Enttäuschungen zu erleben, mit ganz seltenen Momenten der Zufriedenheit.
Dessen war er ganz sicher.
Aber er mußte auch zugeben, daß sie ihrem Ruf alle Ehre |146| machte. Er konnte sich an Martinssons erstes Jahr erinnern, als er frisch von der Polizeihochschule gekommen war. Damals hatten sie nicht viel Freude an ihm gehabt, heute gehörte er zu den besten Kriminalisten in Ystad.
»Morgen werden wir das ganze Material noch einmal gründlich durchgehen«, sagte er aufmunternd. »An irgendeiner Stelle muß es uns doch gelingen, die Mauer zu durchbrechen.«
»Ich hoffe, du hast recht. Aber vielleicht kommt es eines Tages auch hier so weit, daß wir bestimmte Formen von Mord einfach dulden und nicht mehr verfolgen.«
»Dann ist es an uns, zu revoltieren.«
»Der Reichspolizeichef hätte sicher etwas dagegen.«
»Wir müßten eben einen Zeitpunkt wählen, wenn er zu Repräsentationszwecken im Ausland ist«, sagte Wallander bitter.
»An Gelegenheiten würde es uns ja nicht mangeln«, entgegnete sie nicht weniger bitter.
Das Gespräch erstarb. Wallander fuhr auf die Autobahn östlich der Stadt. Er konzentrierte sich ganz auf das Fahren und dachte nur zerstreut an die Ereignisse des langen Tages.
Es war auf der E 65 zwischen Malmö und Ystad, als Wallander plötzlich die Ahnung befiel, daß etwas nicht stimmte. Ann-Britt Höglund hatte die Augen geschlossen und war mit schräggelegtem Kopf eingeschlafen. Im Rückspiegel waren keine verfolgenden Scheinwerfer zu entdecken.
Trotzdem waren seine Sinne mit einemmal geschärft. Ich denke die ganze Zeit in die falsche Richtung, sagte er sich. Anstatt festzustellen, daß kein Wagen hinter uns herfährt, müßte ich mich doch fragen, warum das so ist. Wenn Ann-Britt Höglund recht hat, und warum sollte ich daran zweifeln, daß jemand vom Polizeigebäude an hinter uns her war, dann kann es nur bedeuten, daß eine Verfolgung jetzt nicht mehr notwendig ist.
Wallander dachte an die Mine in Frau Dunérs Garten.
Er überlegte nicht lange, bremste scharf und fuhr mit blinkenden Warnlichtern auf den Randstreifen. Ann-Britt Höglund |147| wachte auf, als der Wagen zum Stillstand kam. Erstaunt und verschlafen blinzelte sie ihn an.
»Steig aus«, sagte Wallander.
»Warum denn?«
»Mach, was ich sage«, schrie er.
Sie ließ den Sicherheitsgurt zurückschnellen und sprang noch vor ihm aus dem Wagen.
»Komm ein Stück zur Seite.«
»Was ist denn los?« fragte sie verstört, als sie aus einiger Entfernung auf die Warnblinkleuchten starrten. Der Wind war wieder böig und kalt.
»Ich weiß nicht. Vielleicht gar nichts. Es kam mir nur seltsam vor, daß uns plötzlich keiner mehr verfolgt.«
Er mußte seinen Gedankengang nicht erklären; sie verstand sofort. In diesem Augenblick wurde Wallander klar, daß sie bereits eine tüchtige Polizistin war, intelligent und souverän in schwierigen Situationen. Aber er spürte auch, daß er zum ersten Mal seit langem jemanden hatte, mit dem er seine Angst teilen konnte. Hier am Straßenrand, kurz vor der Abfahrt nach Svedala, fanden die unendlichen Wanderungen am Strand von Skagen erst wirklich ihr Ende.
Wallander war
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