Wallander 05 - Die falsche Fährte
hatte. Das Mädchen im Rapsfeld hatte nichts mit den beiden anderen zu tun. Doch Wallander hatte erneut das Gefühl, als Vertreter seiner Generation und nicht zuletzt als der schlechte Vater, der er für seine eigene Tochter Linda zu sein meinte, trage er persönlich die Verantwortung für alle diese Ereignisse. Wallander fiel leicht in solche Löcher. Dann konnte er schwermütig und geistesabwesend werden und war erfüllt von einer Melancholie, die er kaum in Worte zu fassen vermochte. Oft konnte er nächtelang nicht schlafen. Aber weil er jetzt trotz allem funktionieren mußte, als Polizist in einem Randbezirk der Welt und als Leiter eines Ermittlungsteams, versuchte er, die Unruhe abzuschütteln und seine Gedanken durch einen Spaziergang an der frischen Luft zu ordnen.
Er stellte sich die trostlose Frage, was das eigentlich für eine Welt war, in der er lebte. In der junge Menschen sich selbst verbrannten oder auf andere Art und Weise versuchten, sich das Leben zu nehmen. Er kam zu dem Ergebnis, daß sie mitten in einer Epoche lebten, die man die Zeit des Scheiterns nennen konnte. Sie hatten an etwas geglaubt und es aufgebaut, doch es erwies sich als weniger haltbar, als sie erwartet hatten. Sie hatten gemeint, ein Haus zu bauen, während sie in Wirklichkeit mit der Errichtung eines Denkmals beschäftigt waren für etwas, das bereits vergangen und fast vergessen war. Jetzt fiel Schweden um ihn her in sich zusammen wie ein gigantisches Regalsystem, und niemand wußte, welche Zimmerleute draußen im Flur standen und darauf warteten, mit von der Partie zu sein, wenn neue Regale aufgestellt wurden. Alles war so unklar, außer der Hitze und dem Sommer. Junge Menschen nahmen sich das Leben oder versuchten es zumindest. Menschen lebten, um zu vergessen, nicht um sich zu erinnern. Wohnungen waren eher Verstecke als traute Heime. Und die Polizei stand stumm herum und wartete auf den Tag, an dem die Arrestzellen von anderen Männern in Uniform bewacht werden würden, den Angestellten privater Wachgesellschaften.
Wallander wischte sich den Schweiß von der Stirn und entschied, daß es jetzt genug war. Auch für ihn gab es eine Grenze der |270| Belastbarkeit. Er dachte an den Jungen mit den wachsamen Augen, der neben seiner Mutter auf dem Sofa gesessen hatte. Er dachte an Linda, und schließlich wußte er nicht mehr, was er eigentlich dachte.
Ungefähr da war er am Krankenhaus angelangt. Svedberg stand auf der Treppe und erwartete ihn. Plötzlich schwankte Wallander, wie von einem Schwindelanfall erfaßt. Svedberg machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. Doch Wallander wischte sie zur Seite und stieg weiter die Krankenhaustreppe hinauf. Als Schutz vor der Sonne trug Svedberg eine lustige, aber viel zu große Schirmmütze. Wallander murmelte etwas Unverständliches und zog ihn mit sich in die Cafeteria links vom Eingang. Blasse Menschen in Rollstühlen oder mit Gehwagen und Infusionsständern tranken Kaffee mit Freunden und Verwandten, die sie aufmunterten, die aber am liebsten wieder hinaus in die Sonne wollten, um schnell alles zu vergessen, was mit Krankenhaus, Tod und Elend zu tun hatte. Wallander holte Kaffee und ein belegtes Brot, Svedberg dagegen begnügte sich mit einem Glas Wasser. Wallander spürte, wie vollkommen unpassend diese Kaffeepause war, während Carlmans Tochter offenbar im Sterben lag. Doch zugleich erschien sie ihm wie eine Beschwörung gegen all das, was um ihn her geschah. Die Kaffeepause als sein absolut letztes Bollwerk. Sein eigener Schlußkampf, worum es dabei auch gehen mochte, würde sich auf einer letzten Schanze abspielen, wo er vorher dafür gesorgt hatte, Kaffee in Reichweite zu haben.
»Carlmans Witwe hat angerufen«, berichtete Svedberg. »Sie war vollkommen hysterisch.«
»Was hat das Mädchen gemacht?«
»Sie hat Tabletten genommen.«
»Und dann?«
»Jemand hat sie zufällig gefunden. Da lag sie in tiefer Bewußtlosigkeit. Fast kein Puls mehr. Der Herzstillstand trat ein, als sie im Krankenhaus ankamen. Es geht ihr offenbar sehr schlecht. Du kannst also nicht damit rechnen, mit ihr zu sprechen.«
Wallander nickte. Er hatte den Fußweg zum Krankenhaus mehr um seiner selbst willen unternommen.
|271| »Was hat ihre Mutter gesagt? Gibt es einen Abschiedsbrief? Eine Erklärung?«
»Es kam anscheinend vollkommen unerwartet.«
Wallander dachte wieder an die Ohrfeige, die sie ihm gegeben hatte. »Als ich sie traf, wirkte sie, als sei sie völlig aus dem
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