Wallander 05 - Die falsche Fährte
Gleichgewicht«, sagte er. »Hat sie wirklich nichts hinterlassen?«
»Ihre Mutter hat jedenfalls nichts erwähnt.«
Wallander überlegte. Dann entschied er sich. »Tu mir einen Gefallen«, sagte er. »Fahr hin und bestehe darauf zu erfahren, ob ein Brief existiert oder nicht. Wenn es etwas gibt, siehst du es dir genau an.«
Sie verließen die Cafeteria. Wallander fuhr mit Svedberg zurück zum Präsidium. Er konnte sich ebensogut telefonisch bei einem Arzt nach dem Befinden des Mädchens erkundigen.
»Ich habe ein paar Papiere auf deinen Tisch gelegt«, sagte Svedberg. »Ich habe die Journalistin und den Fotografen, die Wetterstedt an dem Tag, als er starb, besucht haben, telefonisch vernommen.«
»Hat es etwas gebracht?«
»Es bekräftigt nur, was wir vermutet haben. Wetterstedt war wie immer. Nichts in seiner Umgebung scheint ihn bedroht zu haben. Nichts, was ihm bewußt war.«
»Du meinst mit anderen Worten, ich brauche das Protokoll nicht zu lesen?«
Svedberg zuckte die Schultern. »Vier Augen sehen immer mehr als zwei.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, antwortete Wallander abwesend, während er aus dem Wagenfenster blickte.
»Ekholm legt letzte Hand an ein psychologisches Profil«, sagte Svedberg.
Wallander gab nur ein unverständliches Murmeln von sich.
Svedberg setzte ihn vor dem Präsidium ab und fuhr sofort weiter zu Carlmans Witwe. Wallander nahm einen Stapel von Mitteilungen an sich, die in der Anmeldung lagen. Es saß wieder ein neues Mädchen da. Wallander fragte nach Ebba und erhielt die Antwort, sie sei im Krankenhaus, um sich den Gips am Handgelenk abnehmen zu lassen. Ebba hätte ich besuchen können, wo ich |272| schon da war, dachte Wallander. Wenn man überhaupt jemanden besuchen kann, dem nur der Gips abgenommen wird.
Er ging in sein Zimmer und öffnete das Fenster sperrangelweit. Ohne sich zu setzen, ging er die Papiere durch, von denen Svedberg gesprochen hatte. Dabei fiel ihm ein, daß er auch darum gebeten hatte, die Fotos zu sehen. Wo waren sie? Ohne seinen Ärger beherrschen zu können, suchte er Svedbergs Handynummer heraus und rief ihn an. »Die Fotos?« fauchte er. »Wo sind sie?«
»Liegen sie nicht auf deinem Tisch?« fragte Svedberg erstaunt.
»Hier liegt nichts.«
»Dann liegen sie bei mir. Ich muß sie vergessen haben. Sie sind heute mit der Post gekommen.«
Die Bilder lagen in einem braunen Umschlag auf Svedbergs pedantisch aufgeräumtem Schreibtisch. Wallander breitete sie vor sich aus und setzte sich auf Svedbergs Stuhl. Wetterstedt posierte im Haus, im Garten und am Strand. Auf einem der Bilder konnte man im Hintergrund das umgedrehte Ruderboot erkennen. Wetterstedt lächelte in die Kamera. Sein graues Haar, das ihm bald vom Kopf gerissen werden sollte, war vom Wind zerzaust. Die Bilder strahlten ein harmonisches Gleichgewicht aus und zeigten einen Mann, der sich mit seinem Alter versöhnt zu haben schien. Nichts auf den Bildern ließ ahnen, was in Kürze geschehen würde. Wallander rechnete nach. Wetterstedt hatte gerade noch fünfzehn Stunden zu leben, als die Bilder aufgenommen wurden. Sie zeigten Wetterstedt an seinem Jüngsten Tag. Wallander grübelte noch ein paar Minuten über den Fotos, bevor er sie wieder in den Umschlag steckte und Svedbergs Zimmer verließ. Auf dem Weg zu seinem Büro besann er sich plötzlich eines anderen und hielt vor Ann-Britt Höglunds Tür inne, die immer offenstand.
Sie saß über ein paar Papiere gebeugt.
»Störe ich?« fragte er.
»Überhaupt nicht.«
Er trat ein und setzte sich in ihren Besucherstuhl. Sie wechselten ein paar Worte über Carlmans Tochter. »Svedberg ist auf der Jagd nach einem Abschiedsbrief«, sagte Wallander. »Wenn überhaupt einer existiert.«
|273| »Sie muß ihrem Vater sehr nahegestanden haben«, meinte Ann-Britt Höglund.
Wallander antwortete nicht. Er wechselte das Gesprächsthema.
»Hast du etwas Sonderbares bemerkt, als wir bei Fredmans Familie waren?«
»Etwas Sonderbares?«
»Einen kalten Wind, der plötzlich durchs Zimmer wehte?«
Er bereute sofort seine Ausdrucksweise. Ann-Britt Höglund zog die Stirn kraus, als hätte er etwas Unpassendes gesagt.
»Daß sie ausweichend antworteten, als ich nach Louise gefragt habe«, verdeutlichte er.
»Nein«, erwiderte sie. »Aber ich habe gemerkt, daß du auf einmal anders warst.«
Er erklärte das Gefühl, das ihn überkommen hatte. Sie dachte nach und versuchte, sich zu erinnern, bevor sie antwortete. »Vielleicht hast du recht«, meinte
Weitere Kostenlose Bücher