Wallander 05 - Die falsche Fährte
ein gutes Verhältnis hatten und er jeden Morgen mit dem Gefühl aufgewacht war, ein Kind zu sein, das von seinem Vater geliebt wurde. Doch jetzt, mehr als vierzig Jahre später, fiel es ihm schwer, zu sehen, wie sein Vater als jüngerer Mann eigentlich gewesen war. Seine Bilder hatten |281| sich nicht verändert, Landschaften mit oder ohne Birkhuhn. Sein Gefühl dafür, von einem Bild zum nächsten nichts zu verändern, war unbestechlich. Wallander dachte manchmal, sein Vater habe in Wirklichkeit in seinem ganzen Leben nur ein einziges Bild gemalt. Von Anfang an war er mit dem Ergebnis zufrieden gewesen. Er hatte nie versucht, etwas zu verbessern. Er trank seinen Kaffee aus und versuchte, sich ein Leben vorzustellen, in dem sein Vater nicht mehr existierte. Es fiel ihm schwer. Er fragte sich, was er mit dem Vakuum anfangen würde, das sein jetzt ständig schlechtes Gewissen zurücklassen mußte. Die Reise nach Italien, die sie im September machen wollten, war vielleicht ihre letzte Möglichkeit, einander noch einmal näherzukommen, vielleicht sich miteinander zu versöhnen und die glückliche Zeit, die Zeit der Seidenritter, mit all dem zu verbinden, was nachher gewesen war. Er wollte nicht, daß die Erinnerung an dem Punkt aufhörte, als er die letzten Bilder aus dem Haus getragen und in den Ami-Schlitten eines der Aufkäufer gestellt und danach neben seinem Vater gestanden und dem Seidenritter nachgewinkt hatte, der in einer Staubwolke verschwand, um die Bilder zum drei- oder vierfachen Preis des Betrags zu verkaufen, den er von einem dicken Bündel Scheine abgezählt und dem Vater als Bezahlung in die Hand gedrückt hatte.
Um halb sieben wurde er wieder Kriminalbeamter und schob die Erinnerungen beiseite. Während er sich anzog, versuchte er, die Reihenfolge der Aufgaben zu bestimmen, die er sich für diesen Tag vorgenommen hatte. Um sieben betrat er das Polizeipräsidium, nachdem er ein paar Worte mit Norén gewechselt hatte, der gleichzeitig mit ihm kam. Es hätte eigentlich Noréns letzter Arbeitstag vor dem Urlaub sein sollen, den er jetzt, wie so viele seiner Kollegen, verschoben hatte.
»Es fängt bestimmt an zu regnen, wenn ihr den Mörder gefaßt habt«, sagte er. »Welcher Wettergott nimmt Rücksicht auf einen einfachen Polizisten, wenn ein Serienmörder sein Unwesen treibt?«
Wallander murmelte etwas Unverständliches als Antwort. Aber er bezweifelte nicht, daß in Noréns Worten eine dunkle Wahrheit verborgen war.
|282| Er ging zu Hansson hinein, der seine gesamte Zeit im Präsidium zu verbringen schien, niedergedrückt von Sorgen angesichts der schwierigen Ermittlung und von der ihm auferlegten Bürde als stellvertretender Chef. Sein Gesicht war grau wie ein Pflasterstein. Er rasierte sich mit einem uralten elektrischen Rasierapparat, als Wallander hereinkam. Sein Hemd war zerknittert, seine Augen waren blutunterlaufen.
»Du mußt versuchen, dann und wann mal ein paar Stunden zu schlafen«, sagte Wallander. »Deine Verantwortung ist nicht größer als die von jedem anderen.«
Hansson schaltete den Rasierer ab und betrachtete finster das Ergebnis in einem Taschenspiegel. »Ich habe gestern eine Schlaftablette genommen«, sagte er. »Aber eingeschlafen bin ich trotzdem nicht. Das einzige Ergebnis ist, daß ich jetzt Kopfschmerzen habe.«
Wallander betrachtete ihn schweigend. Er hatte Mitleid mit ihm. Chef zu sein war nie Hanssons Traum gewesen.
»Ich fahre nach Malmö«, sagte er. »Ich will noch einmal mit Björn Fredmans Familie reden. Besonders mit denen, die gestern nicht da waren.«
Hansson sah ihn fragend an. »Willst du einen vierjährigen Jungen verhören? Das darfst du nicht.«
»Ich denke vor allem an die Tochter«, gab Wallander zurück. »Sie ist immerhin siebzehn. Und ich habe nicht vor, jemanden zu verhören.«
Hansson nickte und erhob sich schwer von seinem Schreibtisch. Er zeigte auf ein Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag.
»Das habe ich von Ekholm bekommen«, sagte er. »Verhaltensforschung mit Ausgangspunkt in ein paar Fallstudien über berüchtigte Serienmörder. Es ist nicht zu fassen, was Leute anstellen können, wenn sie nur krank genug im Kopf sind.«
»Steht da etwas über Skalpe?«
»Das gehört zu der milderen Form des Trophäensammelns. Wenn du wüßtest, was man alles zu Hause bei den Leuten gefunden hat, würde dir schlecht.«
»Mir ist auch so schon schlecht«, gab Wallander zurück. »Ich glaube, ich kann mir denken, was in dem Buch steht.«
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