Wallander 05 - Die falsche Fährte
geschlafen hatte. Unter einem Stuhl sah Wallander eine leere Weinflasche. Der Junge merkte sofort, daß Wallander sie gesehen hatte. Seine Wachsamkeit schien nicht einen Augenblick nachzulassen. Wallander fragte sich, ob er eigentlich das Recht hatte, mit einem minderjährigen Jungen über den Tod seines Vaters zu sprechen, und zwar nicht in der korrekten Form, also in Anwesenheit eines Angehörigen. Gleichzeitig wollte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Außerdem war der Junge erstaunlich reif für sein Alter. Wallander hatte die ganze Zeit das Gefühl, mit einem Gleichaltrigen zu sprechen. Sogar Linda konnte im Vergleich mit dem Jungen kindlich wirken.
»Was wirst du diesen Sommer tun?« fragte Wallander. »Wir haben schönes Wetter bekommen.«
Der Junge lächelte. »Ich habe eine Menge zu tun«, antwortete er.
Wallander wartete auf eine Fortsetzung, die jedoch nicht kam.
»In welche Klasse kommst du im Herbst?«
»In die achte.«
»Kommst du gut zurecht?«
»Ja.«
»Was macht dir am meisten Spaß?«
»Nichts. Mathematik ist am leichtesten. Zahlen sind etwas spannendes. Wir haben einen Club gegründet, der sich mit Zahlenmystik befaßt.«
»Darunter kann ich mir kaum etwas vorstellen.«
»Die heilige Drei. Die sieben schweren Jahre. Zu versuchen, seine Zukunft zu lesen, indem man Zahlen aus seinem eigenen Leben kombiniert.«
»Das hört sich interessant an.«
»Ja.«
Wallander spürte, daß dieser Junge ihn immer mehr faszinierte. Der große Körper bildete einen starken Kontrast zu seinem |286| kindlichen Gesicht. Aber an seinem Kopf war offensichtlich nichts auszusetzen.
Wallander holte die zerknüllte Benzinquittung aus seiner Jacke. Dabei fielen seine Wohnungsschlüssel aus der Tasche. Er steckte sie zurück und setzte sich wieder.
»Ich habe ein paar Fragen«, sagte er. »Aber dies ist absolut kein Verhör. Wenn du warten möchtest, bis deine Mutter wieder hier ist, brauchst du es nur zu sagen.«
»Das ist nicht nötig. Ich antworte, wenn ich kann.«
»Deine Schwester«, fragte Wallander. »Wann kommt sie zurück?«
»Ich weiß nicht.«
Der Junge sah ihn an. Die Frage schien ihm nichts ausgemacht zu haben. Er hatte geantwortet, ohne zu zögern. Wallander überlegte, ob er sich am Tag zuvor geirrt hatte.
»Ich nehme an, daß ihr Kontakt mit ihr habt? Daß ihr wißt, wo sie ist?«
»Sie ist einfach weggefahren. Es ist nicht das erste Mal. Sie kommt zurück, wenn sie selbst will.«
»Ich hoffe, du kannst verstehen, wenn sich das für mich ein bißchen sonderbar anhört.«
»Für uns nicht.«
Der Junge schien unerschütterlich zu sein. Wallander war überzeugt, daß er wußte, wo sich seine Schwester befand. Aber er würde ihn zu keiner Antwort zwingen können. Auch war die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß das Mädchen wirklich erschüttert gewesen und einfach vor der ganzen Situation davongelaufen war.
»Ist sie vielleicht in Kopenhagen?« fragte er vorsichtig. »Und deine Mutter ist heute hingefahren, um sie zu besuchen?«
»Sie wollte Schuhe kaufen.«
Wallander nickte. »Laß uns von etwas ganz anderem sprechen«, fuhr er fort. »Du hast Zeit gehabt nachzudenken. Kannst du dir jetzt vorstellen, wer deinen Vater getötet hat?«
»Nein.«
»Bist du der gleichen Ansicht wie deine Mutter, daß viele dazu Lust gehabt haben können?«
|287| »Ja.«
»Warum?«
Zum erstenmal schien die unerschütterliche und höfliche Freundlichkeit des Jungen einen Sprung zu bekommen. Seine Antwort kam unerwartet heftig. »Mein Vater war ein böser Mann«, stieß er hervor. »Er hatte schon vor langer Zeit das Recht verwirkt zu leben.«
Wallander war von den Worten des Jungen unangenehm berührt. Wie konnte ein junger Mensch nur so voller Haß sein?
»So etwas kann man aber nicht sagen«, antwortete er. »Daß ein Mensch sein Recht zu leben verwirkt hat. Was er auch getan haben mag.«
Der Junge war wieder unberührt.
»Was hat er denn so Böses getan?« fuhr Wallander fort. »Viele Menschen sind Diebe. Viele handeln mit Diebesgut. Deshalb sind sie noch lange keine Monster.«
»Er hat uns in Schrecken versetzt.«
»Wie denn?«
»Alle hatten Angst vor ihm.«
»Du auch?«
»Ja. Aber im letzten Jahr nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Die Angst verschwand.«
»Deine Mutter?«
»Sie hatte Angst.«
»Dein Bruder?«
»Er lief weg und versteckte sich, wenn er glaubte, daß mein Vater käme.«
»Deine Schwester?«
»Sie hatte am meisten Angst von uns allen.«
Wallander nahm
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