Wallander 05 - Die falsche Fährte
Wallander. »Ich war nicht einmal auf der Toilette.«
»Dann muß ich geträumt haben«, sagte sie und gähnte. »Ich war mir eigentlich sicher, du hättest meine Tür aufgemacht und wärst ins Zimmer gekommen.«
»Du hast bestimmt geträumt«, meinte er. »Ausnahmsweise habe ich die ganze Nacht geschlafen, ohne einmal wach zu werden.«
Eine Stunde später verließ Linda die Wohnung. Sie hatten verabredet, sich um sieben Uhr am Abend am Österportstorg zu treffen. Linda und Kajsa durften ein leeres Ladenlokal benutzen, wo sie proben konnten. Linda hatte gefragt, ob er sich darüber im klaren sei, daß zur selben Zeit Schweden im Achtelfinale gegen Saudi-Arabien spielte. Wallander hatte erwidert, das sei ihm egal. Dagegen hatte er getippt, daß Schweden 3:1 gewinnen würde, und einen weiteren Hunderter an Martinsson gezahlt. Als Wallander allein war, holte er sein Bügelbrett heraus und bügelte die frisch gewaschenen Hemden. Nachdem er mehr schlecht als recht zwei geschafft hatte, verlor er die Lust und rief statt dessen Baiba in Riga an. Sie meldete sich sofort, und er hörte, daß sie sich über seinen Anruf freute. Er erzählte von Lindas Besuch und daß er sich zum erstenmal seit Wochen ausgeschlafen fühlte. Baiba schloß in diesen Tagen das Sommersemester an der Universität ab. Sie sprach mit fast kindlicher Erwartung von der Reise nach Skagen. Nach dem Gespräch ging Wallander ins Wohnzimmer, legte
Aida
auf und stellte den Ton laut. Er fühlte sich froh und voller Energie. Er setzte sich auf den Balkon und las gründlich die Zeitungen der letzten Tage durch. Die Berichte über die Mordermittlung übersprang er allerdings. Er hatte sich selbst bis zwölf Uhr frei gegeben und vollkommene Gedankenleere verordnet. Danach würde er wieder an die Arbeit gehen. Aber ganz so, wie er es sich gedacht hatte, kam es nicht, denn Per Åkeson rief bereits um Viertel nach elf an. Er hatte Kontakt mit dem Oberstaatsanwalt in Malmö aufgenommen und mit ihm über Wallanders Wunsch diskutiert. Er meinte, daß Wallander möglicherweise schon in den nächsten Tagen Auskunft über Louise Fredman erhalten würde. Er hatte jedoch noch eine Frage, die er Wallander stellen wollte. »Wäre |319| es nicht einfacher, dir die Antworten auf deine Fragen direkt von der Mutter des Mädchens zu holen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Wallander und schaute nachdenklich. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Wahrheit erfahre, die ich hören will.«
»Und welche ist das? Wenn es nun mehr als eine Wahrheit gibt?«
»Die Mutter schützt ihre Tochter«, sagte Wallander. »Das ist natürlich. Das würde ich auch tun. Auch wenn sie mir die Wahrheit erzählte, würde das, was sie sagt, davon geprägt sein, daß sie ihre Tochter schützt. Ärztliche Aufzeichnungen und ärztliche Aussagen sprechen eine andere Sprache.«
»Ich nehme an, du weißt am besten, was du tun mußt«, meinte Åkeson und versprach, sich im Laufe des Montags zu melden, sobald er mehr sagen konnte.
Das Gespräch mit Åkeson hatte Wallander wieder zur Ermittlung zurückgebracht. Er nahm einen Kollegblock mit auf den Balkon und ging die Ermittlungsschritte der kommenden Woche durch. Er begann sich hungrig zu fühlen und fand, er könne sich erlauben, sich an diesem Sonntag selbst zum Mittagessen einzuladen. Kurz vor zwölf verließ er die Wohnung, weiß gekleidet wie ein Tennisspieler und mit Sandalen an den Füßen. Er fuhr in Richtung Österlen mit dem Hintergedanken, nachher seinen Vater zu besuchen. Hätte er nicht den Kopf so voll gehabt mit seiner Ermittlung, hätte er Gertrud und seinen Vater irgendwohin zum Mittagessen einladen können. Aber so brauchte er die Zeit für sich selbst. Während der Woche war er ständig von Menschen umgeben, in Einzelgesprächen oder in Sitzungen. Jetzt wollte er allein sein. Ohne eigentlich darauf zu achten, fuhr er bis nach Simrishamn. Er hielt unten bei den Booten und machte einen Spaziergang. Dann ging er zum Essen in den Hamnkrog. Er setzte sich an einen Tisch in einer Ecke und betrachtete all die Urlauber, die das Restaurant füllten. Einer von denen, die hier sitzen, kann der Mann sein, den ich suche, dachte er. Wenn Ekholms Theorie stimmt und der Täter ein ganz normales Leben führt und keinerlei äußere Anzeichen einer psychischen Störung erkennen läßt, die ihn die denkbar schwersten Gewalttaten gegen andere Menschen |320| verüben läßt, dann kann er einer von denen sein, die hier sitzen und essen.
In diesem Augenblick
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