Wallander 05 - Die falsche Fährte
Schwester erinnerte ihn immer mehr an seine Mutter, je älter sie wurde. Wallander hatte nie eine besonders glückliche Beziehung zu seiner Mutter gehabt. In seiner Jugend war die Familie in zwei unsichtbare Lager gespalten gewesen, seine Schwester und seine Mutter gegen ihn und seinen Vater. Damals hatte er eine sehr enge Beziehung zu seinem Vater gehabt. Erst als er mit knapp zwanzig Jahren beschloß, Polizist zu werden, hatte sich ein Riß zwischen ihnen aufgetan. Sein Vater hatte Wallanders Wahl nie akzeptiert. Aber er konnte seinem Sohn weder erklären, warum er den Beruf, den er gewählt hatte, so verabscheute, noch was Wallander statt dessen hätte tun sollen. Als Wallander seine Ausbildung abgeschlossen hatte und als Streifenpolizist in Malmö anfing, hatte sich der Riß zu einem Abgrund erweitert. Ein paar Jahre später erkrankte seine Mutter an Krebs. Es ging sehr schnell. Nach Neujahr hatte sie die Diagnose bekommen, und bereits im Mai war sie tot. Seine Schwester Kristina verließ im selben Sommer ihr Zuhause und zog nach Stockholm, wo sie bei LM Ericsson Arbeit bekommen hatte. Sie heiratete, wurde geschieden, heiratete erneut. Wallander |64| hatte ihren ersten Mann einmal getroffen, aber wie ihr jetziger Mann aussah, ahnte er nicht. Er wußte, daß Linda sie manchmal in Kärrtorp besuchte, aber ihren Kommentaren hatte er entnommen, daß diese Besuche nie sehr erfreulich verliefen. Wallander konnte sich vorstellen, daß der Riß aus ihrer Kindheit und Jugend weiterbestand. An dem Tag, an dem sein Vater starb, würde er unüberbrückbar werden.
»Ich besuche ihn noch heute abend«, sagte Wallander und dachte an den Berg Schmutzwäsche auf dem Fußboden.
»Ich möchte, daß du mich anrufst«, sagte sie.
Wallander versprach es.
Dann rief er Baiba in Riga an. Als sich jemand meldete, glaubte er zuerst, es sei Baiba. Dann hörte er, daß es ihre Putzhilfe war, die nur Lettisch sprach. Er legte schnell wieder auf. Im selben Moment klingelte es. Er zuckte zusammen, als habe er alles andere erwartet, nur nicht, daß jemand ihn anrief.
Er nahm den Hörer ab und erkannte Martinssons Stimme.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Martinsson.
»Ich bin nur hier, um mein Hemd zu wechseln«, sagte Wallander und fragte sich, warum er stets das Bedürfnis hatte, sich zu entschuldigen, wenn er zu Hause war. »Gibt es was Neues?«
»Es ist eine Anzahl von Telefonaten eingegangen, wegen vermißter Personen«, sagte Martinsson. »Ann-Britt geht sie gerade durch.«
»Ich dachte in erster Linie an deine Computerdateien. Hast du etwas rausbekommen?«
»Unsere Rechner sind den ganzen Vormittag ausgefallen«, erwiderte Martinsson finster. »Ich habe eben in Stockholm angerufen. Jemand dort glaubt, daß wir in einer Stunde wieder online sind. Aber ganz überzeugt hörte er sich nicht an.«
»Wir jagen keine Verbrecher«, sagte Wallander. »Wir können warten.«
»Aus der Pathologie in Malmö hat jemand angerufen. Eine Frau. Sie hieß Malmström. Ich habe ihr versprochen, daß du dich meldest.«
»Warum konnte sie nicht mit dir reden?«
»Sie wollte mit dir sprechen. Ich nehme an, es hängt damit |65| zusammen, daß trotz allem du sie noch lebend gesehen hast und nicht ich.«
Wallander nahm einen Bleistift und notierte die Nummer. »Ich war da draußen«, sagte er. »Nyberg lag auf den Knien im Lehm und schwitzte. Er wartete auf einen Hund.«
»Er ist doch selbst wie ein Hund«, sagte Martinsson, ohne sich die Mühe zu machen, seine Abneigung gegen Nyberg zu verbergen.
»Er mag knurrig sein«, protestierte Wallander. »Aber er kann was.«
Gerade als er das Gespräch beenden wollte, fiel ihm Salomonsson ein. »Der Bauer ist gestorben«, sagte er.
»Wer?«
»Der Mann, in dessen Küche wir gestern abend Kaffee getrunken haben. Er hatte einen Schlaganfall und ist gestorben.«
»Wir sollten vielleicht den Kaffee wieder auffüllen«, sagte Martinsson düster.
Nach dem Gespräch ging Wallander in die Küche und trank Wasser. Lange blieb er untätig am Küchentisch sitzen. Es war zwei Uhr geworden, als er in Malmö anrief. Er mußte warten, bevor die Ärztin, die Malmström hieß, ans Telefon kam. An ihrer Stimme hörte er, daß sie sehr jung war. Wallander stellte sich vor und bedauerte, daß sich sein Rückruf verzögert habe.
»Sind neue Erkenntnisse aufgetaucht, die auf ein Verbrechen hindeuten?« fragte sie.
»Nein.«
»Das heißt, daß wir keine gerichtsmedizinische Untersuchung machen müssen«, sagte sie.
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