Wallander 05 - Die falsche Fährte
Niemand war in seine Welt eingedrungen. Im Mehlstaub waren keine Fußabdrücke. Dann untersuchte er die Mausefallen. Er hatte Glück gehabt. In allen vier Fallen hatte er eine Maus gefangen. In einem der Käfige saß die größte Maus, die er je gesehen hatte.
Gegen Ende seines Lebens hatte Geronimo von dem Pawnee-Krieger erzählt, den er einst in seiner Jugend besiegt hatte. Er hatte den Namen »Der Bär mit sechs Krallen« , weil er an seiner linken Hand sechs Finger hatte. Er war sein schlimmster Feind gewesen. Geronimo wäre damals beinah gestorben, obwohl er noch sehr jung war. Den sechsten Finger schlug er seinem Feind ab und legte ihn zum Trocknen in die Sonne. Dann trug er ihn viele Jahre lang in einem kleinen Lederbeutel an seinem Gürtel.
Er nahm sich vor, eine seiner Äxte an der großen Maus auszuprobieren. An den kleineren würde er untersuchen, welche Wirkung das Verteidigungsspray eigentlich hatte.
Aber bis dahin war noch viel Zeit. Zuerst würde er die große Verwandlung durchmachen. Er setzte sich vor die Spiegel, stellte sie so ein, daß sie keine Reflexe warfen, und betrachtete sein Gesicht . Auf der linken Wange hatte er eine kleine Schramme eingeritzt . Die Wunde war schon verheilt. Der erste Schritt zur endgültigen Verwandlung.
Der Schlag war perfekt gewesen. Es war wie das Spalten eines Holzklotzes, als er dem ersten Monster das Rückgrat zerschlug. In sich hatte er den Jubel aus der Geisterwelt vernommen. Er hatte das Monster auf den Rücken gewälzt und ihm den Skalp abgetrennt, ohne zu zögern. Jetzt lag er, wo er liegen
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sollte, in der Erde vergraben, und eine Haarsträhne ragte heraus.
Bald würde dort ein weiterer Skalp liegen.
Er betrachtete sein Gesicht und überlegte, ob er die neue Schramme neben die erste setzen sollte. Oder sollte er das Messer die andere Wange einweihen lassen? Eigentlich spielte es keine Rolle. Wenn er fertig war, würde sowieso sein ganzes Gesicht mit Schrammen bedeckt sein.
Er machte sich sorgfältig an die Vorbereitung. Aus dem Rucksack holte er seine Waffen, die Farben und die Pinsel. Zuletzt zog er das rote Buch hervor, in dem die Offenbarungen und die Aufgaben niedergeschrieben waren. Er legte es vorsichtig auf den Tisch zwischen sich und die Spiegel.
Gestern abend hatte er den ersten Skalp eingegraben. Es gab eine Wache beim Krankenhausgelände. Aber er wußte, wo der Zaun umgestürzt war. Die geschlossene Abteilung mit Gittern vor den Fenstern und Türen lag am Rand des parkähnlichen Geländes. Als er seine Schwester besuchte, hatte er sich ausgerechnet, hinter welchem der Fenster sie nachts schlief. Ihr Fenster war vollkommen dunkel gewesen. Nur ein schwacher Lichtschein war aus dem schweren und bedrohlichen Haus nach außen gedrungen. Er hatte den Skalp vergraben und seiner Schwester zugeflüstert, daß er auf dem Weg sei. Er würde die Monster vernichten, eins nach dem anderen. Danach würde sie wieder in die Welt zurückkehren können.
Er faßte sich an den Oberkörper. Obwohl es Sommer war, fror er in der Kälte, die sich im Keller hielt. Er schlug das rote Buch auf und überblätterte, was dort über den Mann stand, der Wetterstedt hieß, aber jetzt nicht mehr existierte. Auf der siebten Seite war der zweite Skalp beschrieben. Er las, was seine Schwester geschrieben hatte, und dachte, daß er diesmal die kleinste Axt benutzen würde.
Er schlug das Buch zu und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Er hatte die Gesichtsform seiner Mutter. Aber die Augen hatte er von seinem Vater geerbt. Sie lagen tief, wie zwei zurückgezogene Kanonenmündungen. Gerade wegen der Augen konnte er es bedauern, daß auch sein Vater geopfert werden mußte. Aber nur deshalb, |120| und nur mit einem geringen Anflug von Zweifel, den er rasch bezwingen konnte. Seine erste Kindheitserinnerung waren diese Augen. Sie hatten ihn angestarrt, sie hatten ihn bedroht, und in seiner Vorstellung bestand sein Vater später immer nur aus zwei riesengroßen Augen mit Armen und Beinen und einer brüllenden Stimme.
Er wischte sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. Dann tauchte er einen der breiten Pinsel in die schwarze Farbe und zog den ersten Strich über die Stirn, genau da, wo das Messer die Haut auf Wetterstedts Stirn durchtrennt hatte.
Er hatte viele Stunden außerhalb der Polizeiabsperrung zugebracht. Es war ein großes Erlebnis gewesen, alle diese Polizisten zu sehen, die ihre Kräfte anstrengten, um zu verstehen, was geschehen war und wer den Mann getötet hatte,
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