Wallander 05 - Die falsche Fährte
der unter dem Ruderboot lag. Ein paarmal hatte er das Bedürfnis verspürt, ihnen zuzurufen, daß er es gewesen sei.
Dies war eine Schwäche, deren er noch nicht ganz Herr geworden war. Das, was er tat, die Aufgabe, die er aus dem Offenbarungsbuch seiner Schwester herauslas, war nur ihretwegen wichtig, nicht seinetwegen. Diese Schwäche mußte er beherrschen lernen.
Er zog den zweiten Strich über seine Stirn. Schon jetzt, da die Verwandlung noch kaum begonnen hatte, fühlte er, daß große Teile seiner äußeren Identität im Begriff waren, ihn zu verlassen.
Er wußte nicht, warum er den Namen Stefan bekommen hatte. Einmal, als seine Mutter einigermaßen nüchtern war, hatte er sie gefragt. Warum Stefan? Warum dieser Name und kein anderer? Ihre Antwort war sehr vage gewesen. Ein schöner Name, hatte sie gesagt. Daran erinnerte er sich. Ein schöner Name. Ein populärer Name. Ihm sollte erspart bleiben, einen Namen zu haben, den sonst niemand hatte. Er erinnerte sich noch daran, wie empört er gewesen war. Sie lag auf dem Sofa, er hatte sie verlassen und war aus dem Haus gegangen. Dann war er mit dem Fahrrad ans Meer gefahren. Dort war er am Strand entlanggelaufen und hatte sich einen anderen Namen gewählt. Er hatte sich für Hoover entschieden. Nach dem FB I-Chef . Er hatte ein Buch über ihn gelesen. Gerüchten zufolge floß ein wenig Indianerblut in seinen |121| Adern. Er hatte sich gefragt, ob unter seinen Vorfahren auch Indianer waren. Sein Großvater hatte erzählt, daß vor langer Zeit viele aus seiner Familie nach Amerika ausgewandert waren. Vielleicht hatte sich jemand mit einem Indianer zusammengetan. Auch wenn das Blut nicht direkt in seinen eigenen Adern floß, konnte es in der Familie sein.
Erst später, als seine Schwester im Krankenhaus eingesperrt worden war, hatte er beschlossen, Geronimo mit Hoover zu verschmelzen. Er hatte sich daran erinnert, wie sein Großvater ihm gezeigt hatte, wie man Zinn schmolz und es in Gipsformen goß, die Miniatursoldaten darstellten. Er hatte die Formen und die Zinnkelle an sich genommen, als sein Großvater starb. Sie lagen seitdem in einem Pappkarton im Keller. Jetzt hatte er sie hervorgeholt und die Form so verändert, daß das geschmolzene Zinn eine Form bildete, die Polizist und Indianer zugleich war. Eines Abends, als alle schliefen und sein Vater im Gefängnis saß, also nicht jeden Augenblick in ihre Wohnung stürmen konnte, hatte er sich in der Küche eingeschlossen und die große Zeremonie durchgeführt. Indem er Hoover mit Geronimo verschmolz, hatte er seine neue Identität geschaffen. Er wurde ein gefürchteter Polizist mit dem Mut eines Indianerkriegers. Er würde unverwundbar sein. Nichts würde ihn daran hindern, die notwendige Rache zu üben.
Er fuhr fort, die geschwungenen schwarzen Striche über den Augen zu ziehen. Sie ließen seine Augen noch tiefer in ihre Höhlen sinken, in denen sie ruhten wie zwei lauernde Raubtiere. Zwei Raubtiere, zwei Blicke. Langsam ging er in Gedanken das Bevorstehende durch. Es war der Abend vor Mittsommer. Daß es stürmte und regnete, erschwerte die Aufgabe. Aber es würde ihn nicht aufhalten. Er mußte sich für die Reise nach Bjäresjö warm anziehen. Er konnte nicht wissen, ob das Fest, das er besuchen wollte, wegen des schlechten Wetters ins Haus verlegt würde. Doch er redete sich ein, daß er sich auf seine Geduld verlassen mußte. Geduld war eine Tugend, die Hoover seinen Rekruten immer wieder gepredigt hatte. Wie Geronimo. Es kam immer ein Augenblick, in dem die Wachsamkeit eines Menschen nachließ. Da mußte man zuschlagen. Das gleiche galt für den Fall, daß das Fest ins Haus |122| verlegt würde. Früher oder später würde der Mann, den zu besuchen er gekommen war, sich draußen zeigen. Dann würde der Augenblick dasein.
Am Tag zuvor war er dort gewesen. Er hatte das Moped in einem Wäldchen gelassen und war auf einen Hügel gestiegen, von wo er ungestört beobachten konnte. Arne Carlmans Haus lag genau wie Wetterstedts ganz für sich. Es gab keine unmittelbaren Nachbarn. Eine Allee gestutzter Weiden führte zu dem weißgekalkten alten Schonenhof.
Die Vorbereitungen für das Mittsommerfest hatten bereits begonnen. Er sah, daß von einem offenen Lastwagen Klapptische und Stapel von Stühlen abgeladen wurden. In einer Ecke des Gartens war man dabei, ein Festzelt aufzuschlagen.
Arne Carlman war auch dagewesen. Durch das Fernglas sah er den Mann, den er am folgenden Tag besuchen würde, im Garten
Weitere Kostenlose Bücher