Wallander 05 - Die falsche Fährte
zwei Morde geworden.«
Wallander wandte sich an Ekholm, der allein an der einen Längsseite des Tisches saß. »Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit«, sagte er.
»Die Inkubationszeit für eine Rache kann unendlich sein«, antwortete Ekholm. »Psychische Prozesse haben keine Verjährungsfrist. Es ist eine der allerältesten kriminologischen Wahrheiten, daß ein Rächer unendlich lange warten kann. Wenn es sich denn um Rache handelt.«
»Was sollte es sonst sein?« fragte Wallander. »Ein Eigentumsdelikt können wir ausschließen. Mit großer Wahrscheinlichkeit im Fall Wetterstedt und mit Sicherheit im Fall Carlman.«
»Ein Motivbild kann viele Bestandteile aufweisen«, sagte Ekholm. »Auch der reine Lustmord kann um ein auf den ersten Blick nicht sichtbares Motiv herum aufgebaut sein. Ein Serienmörder kann seine Opfer aufgrund von Kausalzusammenhängen auswählen, die uns vollkommen planlos erscheinen. Wenn wir an die Skalpe denken, können wir uns fragen, ob er es auf eine bestimmte Art von Haar abgesehen hat. Auf den Fotos sieht man, daß Wetterstedt und Carlman den gleichen kräftigen, grauen Haarwuchs hatten. Wir können nichts ausschließen. Aber als Laie in Fragen polizeilicher Ermittlungsmethoden bin ich der Meinung, daß die Suche nach dem Berührungspunkt im Augenblick am dringlichsten ist.«
»Kann es sein, daß wir völlig falsch denken?« sagte Martinsson plötzlich. »Vielleicht gibt es nur für den Täter einen symbolischen Berührungspunkt zwischen Wetterstedt und Carlman? Während wir in der Wirklichkeit graben und suchen, sieht er vielleicht einen symbolischen Zusammenhang, der für uns unsichtbar bleibt? Etwas, was wir mit unserem rationalen Denken überhaupt nicht erfassen?«
Wallander wußte von Martinssons Fähigkeit, in seltenen Augenblicken |197| eine Ermittlung um ihre Achse zu drehen und sie auf die richtige Fährte zu lenken.
»Da ist etwas dran«, sagte er deshalb. »Mach weiter.«
Martinsson zuckte mit den Schultern und schien bereits im Begriff zu stehen, sich nach seinem Vorstoß wieder zurückzuziehen. »Wetterstedt und Carlman waren reich«, sagte er. »Sie gehörten beide der Oberklasse an. Als symbolische Repräsentanten der politischen und wirtschaftlichen Macht sind sie gut ausgewählt.«
»Bist du auf ein terroristisches Motiv aus?« fragte Wallander verwundert.
»Ich bin auf nichts aus«, erwiderte Martinsson. »Ich höre euch zu und ich versuche, selbst zu denken. Ich habe genau die gleiche Angst wie jeder andere hier im Raum, daß er wieder zuschlägt.«
Wallander blickte in die Runde. Blasse, ernste Gesichter, bis auf Svedberg mit seinem Sonnenbrand.
Erst jetzt wurde ihm klar, daß sie alle die gleiche Angst umtrieb wie ihn selbst.
Nicht nur er fürchtete sich vor dem nächsten Klingeln des Telefons.
Kurz vor neun Uhr beendeten sie die Sitzung. Wallander hatte Martinsson jedoch gebeten, noch zu bleiben. »Was ist mit dem Mädchen?« fragte er. »Dolores Maria Santana?«
»Ich warte immer noch auf eine Reaktion von Interpol.«
»Hak noch einmal nach«, sagte Wallander.
Martinsson betrachtete ihn fragend. »Haben wir dafür jetzt wirklich Zeit?«
»Nein. Aber wir können es auch nicht schleifen lassen.«
Martinsson versprach, ein neues Ersuchen um Informationen über Dolores Maria Santana loszuschicken. Wallander ging in sein Zimmer und rief Lars Magnusson an. Es dauerte lange, bis dieser den Hörer abnahm. Wallander hörte an seiner Stimme, daß er betrunken war. »Ich möchte unser Gespräch fortsetzen«, sagte er.
»Du rufst zu spät an«, antwortete Lars Magnusson. »Um diese Tageszeit führe ich überhaupt keine Gespräche.«
|198| »Setz Kaffee auf«, sagte Wallander. »Und stell die Flaschen weg. Ich komme innerhalb der nächsten halben Stunde vorbei.«
Er legte mitten in Lars Magnussons Protest den Hörer auf. Dann las er die beiden vorläufigen Obduktionsprotokolle durch, die ihm jemand auf den Tisch gelegt hatte. Im Lauf der Jahre hatte Wallander gelernt, die häufig schwer verständlichen Berichte zu verstehen, die Pathologen und Gerichtsmediziner verfaßten. Vor vielen Jahren hatte er sogar einen von der Reichspolizeibehörde arrangierten Kurs besucht. Er fand in Uppsala statt, und Wallander erinnerte sich noch genau daran, wie unangenehm der Besuch im Obduktionssaal war.
In den beiden Protokollen fand er nichts Unerwartetes. Er legte sie zur Seite und sah aus dem Fenster.
Er versuchte, sich den Täter vorzustellen. Wie sah er aus?
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