Wallander 05 - Die falsche Fährte
sich opfern, damit seine Schwester ins Leben zurückkehren würde. Er würde einen von ihnen auswählen. Er würde ihre Namen in Erfahrung bringen und dann Steine in einem Rautensystem werfen, genau wie Geronimo es getan hatte, und er würde denjenigen töten, den der Zufall ihm auswählte.
Er zog den Helm über den Kopf. Dann ging er zu seinem Moped, das er am Tag zuvor hierhergefahren und an einen Laternenmast gelehnt hatte. Er hatte es mit einer Kette angeschlossen und dann einen Flugbus in die Stadt zurück genommen. Er ließ den Motor an und fuhr davon. Es war schon hell, als er den Skalp seines Vaters unter dem Fenster seiner Schwester vergrub.
Um halb fünf schloß er vorsichtig die Wohnungstür in Rosengård auf. Er blieb still stehen und lauschte. Dann schaute er in das Zimmer, in dem sein Bruder schlief. Alles war still. Das Bett im Schlafzimmer seiner Mutter war leer. Sie lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und schlief mit offenem Mund.
Neben ihr auf dem Tisch stand eine halbleere Weinflasche. Er legte ihr vorsichtig eine Wolldecke über. Dann schloß er sich im Badezimmer ein und wischte sich die Farbe vom Gesicht. Das Papier spülte er ins Klo.
Es war fast sechs Uhr, als er ausgezogen war und ins Bett ging. Von der Straße her hörte man einen Mann husten.
Sein Kopf war vollkommen leer.
Er schlief fast augenblicklich ein.
|231| Schonen
29. Juni – 4. Juli 1994
|233| 20
Der Mann, der die Persenning anhob, schrie auf.
Dann lief er davon.
Einer der Fahrkartenverkäufer stand vor dem Bahnhof und rauchte. Es war ein paar Minuten vor sieben am Morgen des 29. Juni. Der Tag würde sehr warm werden. Der Fahrkartenverkäufer wurde aus seinen Gedanken gerissen, die gerade weniger den Fahrkarten galten, die er im Laufe des Tages verkaufen würde, als der Griechenlandreise, die er in ein paar Tagen antreten wollte. Er wandte sich um, als er den Schrei hörte, und sah, wie der Mann die Persenning fallen ließ und davonlief. Das Ganze wirkte unwirklich, als handele es sich um die Einspielung einer Filmszene, doch er konnte nirgendwo eine Kamera entdecken. Der Mann war zum Fährterminal gelaufen. Der Fahrkartenverkäufer warf die Zigarettenkippe fort und ging zur Grube, über der die Persenning lag. Erst als es bereits zu spät war, kam ihm der Gedanke, daß ihn etwas Schreckliches erwarten konnte. Aber da stand er schon mit der Plane in der Hand da und konnte in der Bewegung nicht mehr innehalten. Er starrte auf einen blutigen Kopf. Er ließ die Plane los, als habe er sich daran verbrannt, und lief ins Bahnhofsgebäude, stolperte über ein paar Koffer, die ein früher Reisender nach Simrishamn nachlässig abgestellt hatte, und riß eins der Telefone im Büro des Stationsvorstehers an sich.
Der Alarm über die Notrufnummer 90 000 erreichte die Polizei in Ystad um vier Minuten nach sieben. Svedberg, der an diesem Morgen ungewöhnlich früh zur Arbeit erschienen war, wurde hinzugerufen und nahm das Gespräch an. Als er den verwirrten Fahrkartenverkäufer von einem blutigen Kopf reden hörte, wurde ihm eiskalt. Mit zitternder Hand schrieb er ein einziges Wort auf, Bahnhof, und beendete das Gespräch. Zweimal drückte er danach die falschen Knöpfe und mußte wieder von vorn anfangen, |234| bis es ihm endlich gelang, zu Wallander durchzukommen. Als er sich meldete, war Wallander noch völlig verschlafen, obwohl er es sofort abstritt.
»Ich glaube, jetzt ist es wieder passiert«, sagte Svedberg.
Einige Sekunden lang begriff Wallander nicht, was Svedberg meinte, obwohl er jedesmal, wenn das Telefon klingelte, sei es zu Hause oder im Präsidium, früh oder spät, genau das befürchtet hatte. Aber als es jetzt eintraf, reagierte er einen Augenblick lang nur mit Verwunderung. Oder war es der verzweifelte und von Anfang an zum Scheitern verurteilte Versuch, dem Ganzen zu entkommen?
Dann begriff er. Es war einer jener Augenblicke, in denen er sofort wußte, daß er etwas erlebte, was er nie vergessen würde. Wie seinen eigenen Tod zu ahnen, fuhr es ihm durch den Kopf. Ein Augenblick, in dem es nicht mehr möglich war, vor irgend etwas die Augen zu verschließen oder davonzulaufen.
Ich glaube, jetzt ist es wieder passiert.
Es war wieder passiert. Er fühlte sich wie eine Aufziehpuppe. Svedbergs stammelnde Worte waren wie Hände, die den Polizistenschlüssel, der ihm im Rücken steckte, umdrehten. Er wurde aufgezogen, hochgerissen aus dem Schlaf, aus dem Bett, aus Träumen, an die er sich nicht erinnerte, die
Weitere Kostenlose Bücher