Wallander 06 - Die fünfte Frau
Bettkante. Der Fußboden unter seinen Füßen war kalt. Er sah auf seine Zehennägel. Sie mußten geschnitten werden. Seine ganze Person brauchte eine Totalrenovierung. Vor einem Monat war er in Rom gewesen und hatte Kraft gesammelt. Jetzt war sie verbraucht. In weniger als einem Monat. Er zwang sich in die Senkrechte. Dann ging er ins Badezimmer. Das kalte Wasser war wie eine Ohrfeige. Er dachte, daß er eines Tages auch damit aufhören würde. Mit dem kalten Wasser, |425| das ihn dazu zwang, wieder zu funktionieren. Er trocknete sich ab, zog den Morgenrock an und ging in die Küche. Immer die gleiche Routine. Das Kaffeewasser, danach das Fenster, das Thermometer. Es regnete. Vier Grad plus. Herbst, die Kälte, die sich schon festgesetzt hatte. Jemand im Polizeipräsidium hatte vorhergesagt, daß ein langer Winter bevorstehe. Er fürchtete ihn.
Als der Kaffee fertig war, setzte er sich an den Küchentisch. Inzwischen hatte er die Morgenzeitung geholt. Auf der Titelseite ein Bild aus Lödinge. Er trank ein paar Schluck. Schon jetzt hatte er die erste und höchste Müdigkeitsschwelle überstiegen. Seine Morgen konnten wie komplizierte Hindernisbahnen sein. Er blickte auf die Uhr. Zeit, Baiba anzurufen.
Sie meldete sich beim zweiten Klingeln. Es war, wie er schon in der Nacht gewußt hatte. Jetzt war es anders.
»Ich bin müde«, entschuldigte er sich.
»Ich weiß«, antwortete sie. »Aber meine Frage ist die gleiche.«
»Ob ich will, daß du kommst?«
»Ja.«
»Es gibt nichts, was ich lieber will.«
Sie glaubte ihm. Und sie antwortete, daß sie vielleicht in ein paar Wochen käme. Anfang November. Sie würde die Möglichkeit noch heute untersuchen.
Sie brauchten nicht lange zu reden. Keiner von ihnen hatte viel für das Telefon übrig. Hinterher, als Wallander zu seiner Kaffeetasse zurückgekehrt war, dachte er, daß er diesmal ernsthaft mit ihr reden müßte. Daß sie nach Schweden übersiedeln sollte. Daß er ein Haus kaufen wollte. Vielleicht würde er auch von dem Hund erzählen.
Er blieb müde sitzen. Die Zeitung lag ungeöffnet da. Erst um halb acht zog er sich an. Lange mußte er im Kleiderschrank suchen, bis er ein sauberes Hemd fand, sein letztes. Noch für heute mußte er sich in die Waschliste eintragen. Als er im Begriff war zu gehen, läutete das Telefon. Es war die Autowerkstatt in Älmhult. Wallander erschrak, als er hörte, was die Reparatur kosten sollte. Aber er sagte nichts. Der Mechaniker versprach, den Wagen noch heute bringen zu lassen. Sein Bruder würde ihn nach Ystad |426| fahren und dann den Zug zurücknehmen. Es würde Wallander nur den Zugfahrschein kosten.
Als Wallander auf die Straße kam, war der Regen stärker, als er vom Fenster aus erkannt hatte. Er ging zurück in den Hauseingang und rief im Polizeipräsidium an. Ebba versprach, sofort einen Wagen zu schicken, der ihn holte. Nach nur fünf Minuten bremste der Wagen vor der Haustür. Um acht war er in seinem Büro.
Er hatte eben erst die Jacke ausgezogen, als plötzlich um ihn herum alles auf einmal zu geschehen schien.
Ann-Britt Höglund stand in seiner Tür. Sie war sehr blaß. »Hast du schon gehört?« fragte sie.
Wallander zuckte zusammen. War es wieder passiert? Noch ein getöteter Mann?
»Ich bin gerade gekommen«, sagte er. »Was ist?«
»Martinssons Tochter ist überfallen worden.«
»Terese?«
»Ja.«
»Was ist denn passiert?«
»Sie ist vor der Schule angegriffen worden. Martinsson ist sofort hingefahren. Wenn ich Svedberg richtig verstanden habe, hatte es etwas damit zu tun, daß Martinsson Polizist ist.«
Wallander sah sie verständnislos an. »Ist es schlimm?«
»Sie wurde gestoßen und mit Fäusten ins Gesicht geschlagen. Anscheinend ist sie auch getreten worden. Sie hat keine physischen Schäden. Aber sie hat natürlich einen Schock.«
»Wer hat das getan?«
»Andere Schüler. Die größer sind als sie.«
Wallander setzte sich. »Das ist ja widerlich! Aber warum?«
»Ich weiß nicht alles, was passiert ist. Aber offenbar diskutieren auch die Schüler das mit den Bürgerwehren. Daß die Polizei nichts tut. Daß wir aufgegeben haben.«
»Und da machen sie sich über Martinssons Tochter her?«
»Ja.«
Wallander spürte wieder den Kloß im Hals. Terese war dreizehn, und Martinsson erzählte ständig von ihr.
»Warum fallen sie über ein unschuldiges Kind her?«
|427| »Hast du dir die Zeitungen angesehen?«
»Nein.«
»Solltest du aber. Die Leute haben sich über Eskil Bengtsson und die
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