Wallander 06 - Die fünfte Frau
sich, ob Tore Grundén eingestiegen war. Ahnte der Mann überhaupt, wie nah er dem Tod gewesen war? Wallander sah ein, daß eigentlich keiner begriff, wovon er redete. Nur sein Polizeiausweis und seine Autorität bewirkten, daß man ihn trotz allem als Kriminalbeamten akzeptierte und nicht für einen Verrückten hielt.
Das einzige, was ihn außer Martinssons Gesundheitszustand interessierte, war, wohin Yvonne Ander geflohen war. Er hatte in den erregten Minuten auf dem Bahnsteig Ann-Britt Höglund angerufen und berichtet, was geschehen war. Sie versprach, dafür zu sorgen, daß in Vollsjö eine Gruppe für den Fall in Bereitschaft gehalten wurde, daß sie dorthin zurückkehrte. Auch die Wohnung |533| in Ystad würde bewacht werden. Aber Wallander hatte seine Zweifel. Er glaubte nicht, daß sie dort auftauchen würde. Sie wußte jetzt, daß sie nicht nur überwacht wurde, sondern daß man ihr dicht auf den Fersen war und nicht nachlassen würde, bis sie gefaßt war. Wohin konnte sie sich wenden? Eine planlose Flucht? Die Möglichkeit mußte er in Betracht ziehen. Doch gleichzeitig sprach etwas dagegen. Sie plante die ganze Zeit. Sie war ein Mensch, der durchdachte Auswege suchte. Wallander rief Ann-Britt Höglund wieder an und bat sie, mit Katarina Taxell zu sprechen. Sie sollte nur eine einzige Frage stellen: Hatte Yvonne Ander noch ein weiteres Versteck? Alle anderen Fragen konnten vorläufig warten.
»Ich glaube, sie hat immer einen Reserveausgang«, sagte Wallander. »Sie kann eine Adresse, einen Ort genannt haben, ohne daß Katarina Taxell daran gedacht hat, daß es ein Versteck war.«
»Vielleicht entscheidet sie sich für Katarina Taxells Wohnung in Lund?«
Auch Wallander hielt das für denkbar. »Ruf Birch an«, sagte er. »Er soll sich der Sache annehmen.«
»Sie hat Schlüssel für die Wohnung, das hat Katarina erzählt«, sagte Ann-Britt Höglund.
Wallander wurde von einem Polizeiwagen zum Krankenhaus gelotst. Hansson ging es schlecht, er lag auf einer Bahre.
Sein Hodensack war geschwollen, und er sollte zur Beobachtung dabehalten werden. Martinsson war noch immer bewußtlos. Ein Arzt sprach von einer schweren Gehirnerschütterung. »Der Mann, der solch einen Schlag hat, muß stark gewesen sein«, sagte er.
»Ja«, antwortete Wallander. »Abgesehen davon, daß der Mann eine Frau war.«
Er verließ das Krankenhaus. Wohin sollte er gehen? Etwas nagte in seinem Unterbewußtsein. Etwas, was die Antwort auf die Frage enthalten konnte, wo sie sich befand oder wohin sie eventuell unterwegs war.
Dann kam er darauf. Er stand völlig reglos vor dem Krankenhaus. Nyberg war sehr deutlich gewesen.
Die Fingerabdrücke auf dem Turm mußten zu einem späteren Zeitpunkt dorthin gekommen
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sein.
Das war eine Möglichkeit, auch wenn sie nicht groß war. Yvonne Ander konnte ein Mensch sein wie er selbst. In bedrängten Situationen suchte sie Abgeschiedenheit. Einen Punkt, wo sie Überblick gewinnen, einen Entschluß fassen konnte. Alle ihre Handlungen erweckten den Eindruck detaillierter Vorbereitung und exakter Zeitplanung. Jetzt war alles um sie her zusammengestürzt.
Er sagte sich, daß es auf jeden Fall einen Versuch wert war.
Der Ort war natürlich abgesperrt. Aber Hansson hatte gesagt, daß sie die Arbeit dort erst wieder aufnehmen würden, wenn sie die angeforderte Hilfe bekommen hätten. Wallander nahm auch an, daß die Überwachung lediglich durch Streifenwagen erfolgte. Außerdem konnte sie den Weg benutzen, den sie auch früher genommen hatte.
Wallander verabschiedete sich von den Polizisten, die ihm geholfen hatten. Sie hatten noch immer nicht richtig verstanden, was auf dem Bahnhof passiert war. Aber er versprach ihnen, daß sie im Laufe des Tages informiert würden. Es habe sich lediglich um eine routinemäßige Festnahme gehandelt, die ihnen aus den Händen geglitten sei. Aber eigentlich war kein großer Schaden entstanden. Die Polizisten, die im Krankenhaus bleiben mußten, würden bald wieder auf den Beinen sein.
Wallander setzte sich ins Auto und rief zum drittenmal Ann-Britt Höglund an. Er sagte nicht, worum es ging. Nur daß er sie bei der Abzweigung zu Holger Erikssons Hof treffen wolle.
Es war nach zehn Uhr, als Wallander Lödinge erreichte. Ann-Britt Höglund stand neben ihrem Wagen und wartete. Sie fuhren das letzte Stück zu Erikssons Hof in Wallanders Wagen. Hundert Meter vom Haus entfernt hielt er an. Bisher hatte er noch nichts gesagt. Jetzt sah sie ihn fragend an.
»Ich kann
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