Wallander 07 - Mittsommermord
Wallander ließ die Papiere sinken.
»Wie war es?« fragte er.
»Ich habe von Ann-Britt gehört, wie es bei euch war. Daß Frau Skander beinahe aus dem Fenster gesprungen wäre. So war es bei uns nicht. Dafür sind Torbjörn Werners Eltern zu alt. Aber die Tragödie könnte dennoch kaum größer sein. Torbjörn hatte den Hof übernommen. Die Alten konnten sich zurückziehen. Die Nachfolge war gesichert. Sie hatten noch einen Sohn, der vor ein paar Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Jetzt haben sie keinen mehr.«
»Darauf nimmt der Mörder keine Rücksicht«, erwiderte Wallander.
|443| Martinsson hatte sich ans Fenster gestellt. Wallander konnte sehen, wie mitgenommen er war, und fragte sich, wie lange Martinsson wohl noch durchhielte. Er hatte sich einst mit den besten Vorsätzen entschieden, Polizeibeamter zu werden. Das war zu einer Zeit gewesen, als der Beruf des Polizeibeamten für junge Menschen nicht besonders anziehend war. Danach war eine Periode gekommen, in der der Polizistenberuf regelrecht mit Verachtung betrachtet wurde. Doch Martinsson hatte an seinem ursprünglichen Vorsatz festgehalten. Jede Gesellschaft hatte die Polizei, die sie verdiente. Und er wollte ein guter Polizist sein. Und war es auch geworden. Doch in den letzten Jahren hatte Wallander bemerkt, wie Zweifel an Martinsson nagten, wie er von dem, was er früher einmal gedacht hatte, immer weiter abzurücken schien. Jetzt fragte sich Wallander, ob Martinsson bis zu seiner Pensionierung weitermachen würde. Wenn es ihm gelang, eine Alternative zu finden.
Martinsson stand noch immer am Fenster. Jetzt wandte er sich Wallander zu. »Er wird wieder zuschlagen.«
»Das wissen wir nicht. Aber die Gefahr besteht.«
»Was spricht dafür, daß er es nicht tun sollte? Sein Menschenhaß scheint grenzenlos zu sein. Es gibt kein ersichtliches Motiv. Er tötet um des Tötens willen.«
»Das kommt sehr selten vor. Das Problem ist, daß wir nicht wissen, was ihn antreibt. Wir kennen sein Motiv nicht.«
»Ich glaube, du hast unrecht.«
Martinssons Worte kamen mit großem Nachdruck. In Wallanders Ohren klangen sie wie eine gegen ihn gerichtete Anklage.
»In welcher Hinsicht habe ich unrecht?«
»Vor ein paar Jahren wäre ich deiner Meinung gewesen. Es gibt keine unerklärbare Gewalt. Aber das stimmt nicht mehr. Ohne daß wir es bemerkt haben, ist in diesem Land eine Veränderung vor sich gegangen. Die Gewalt ist etwas Natürliches geworden. Wir haben eine Grenze überschritten. Ganze Generationen von Jugendlichen verlieren den Boden unter den Füßen. Niemand hat ihnen beigebracht, was Unrecht ist und was Recht. Recht oder Unrecht gibt es nicht mehr. Jeder kämpft um sein eigenes Recht. Was für einen Sinn hat es da noch, Polizist zu sein?«
|444| »Die Frage muß sich jeder selbst beantworten.«
»Das versuche ich gerade.«
Martinsson setzte sich in Wallanders abgewetzten Besucherstuhl. »Weißt du, was aus Schweden geworden ist?« fuhr er fort. »Ein gesetzloses Land. Wer hätte das vor fünfzehn, zwanzig Jahren gedacht? Daß in Schweden Gesetzlosigkeit herrschen würde?«
»So weit sind wir noch nicht«, erwiderte Wallander. »Da bin ich nicht deiner Ansicht. Doch die Entwicklung zeigt in die Richtung, von der du sprichst. Deshalb ist es wichtiger denn je, daß Menschen wie du und ich dagegen angehen.«
»So habe ich auch immer gedacht. Aber im Moment kommt es mir so vor, als ständen wir auf verlorenem Posten.«
»Es gibt bestimmt keinen Polizeibeamten in diesem Land, der nicht dann und wann ähnlich verzweifelte Gefühle hat«, meinte Wallander. »Aber das ändert nichts an dem, was ich sage. Wir müssen dagegenhalten. Trotz allem versuchen wir, diesem Wahnsinnigen Widerstand zu leisten. Wir jagen ihn. Wir sind ihm auf der Spur. Wir geben nicht auf. Und wir kriegen ihn.«
»Mein Sohn hat sich in den Kopf gesetzt, Polizist zu werden«, sagte Martinsson. »Er fragt mich, wie es ist. Ich weiß nie, was ich ihm sagen soll.«
»Schick ihn zu mir«, sagte Wallander. »Ich erkläre es ihm.«
»Er ist elf.«
»Elf ist ein gutes Alter, um ein paar Dinge zu verstehen.«
»Ich sag’s ihm.«
Wallander ergriff die Gelegenheit und lenkte ihr Gespräch auf die Ermittlung. »Was wußten Torbjörn Werners Eltern über die Aufnahmen?«
»Nichts, außer daß die jungen Leute sich nach der Trauung und vor der Feier fotografieren lassen wollten.«
Wallander ließ die Handflächen auf die Tischplatte fallen. »Das bedeutet, wir
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