Wallander 07 - Mittsommermord
Pfad. In Wallanders Kopf überschlugen sich unkontrollierte Bilder. Was ihn erwartete, wußte er nicht. Aber es war etwas, was er noch nie gesehen hatte. Tote Menschen glichen sich ebenso wenig wie lebende. Jeder war einzigartig, wie im Leben. Nichts wiederholte sich, nichts war jemals gleich. Mit seiner Unruhe verhielt es sich ebenso. Er kannte ihn schon, den Knoten im Magen. Aber trotzdem war es, als sei es das erste Mal.
Plötzlich ging die Frau langsamer. Wallander merkte, daß sie sich der Stelle näherten. Dann waren sie bei der Decke und den Rucksäcken angelangt. Sie drehte sich um und zeigte auf einen Abhang jenseits des Pfads. Ihre Hand zitterte. Bis hierhin war Martinsson vorangegangen. Jetzt mußte Wallander die Führung übernehmen. Rosmarie Leman wartete bei den Rucksäcken. Wallander blickte den Abhang hinunter. Nichts als undurchdringliches Buschwerk. Langsam bewegte er sich vorwärts, dicht gefolgt von Martinsson. Sie erreichten die Büsche und blickten um sich.
»Kann sie sich geirrt haben?« fragte Martinsson.
Er sprach mit gedämpfter Stimme, als befürchte er, jemand könne ihn hören. Wallander antwortete nicht. Etwas anderes nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Zuerst wußte er nicht, was es war. Dann begriff er.
Der Geruch. Er sah Martinsson an, der noch nicht reagierte. Wallander begann, sich einen Weg durch die Büsche zu bahnen. Er konnte noch immer nichts entdecken. Ein paar Meter vor ihnen standen einige hohe Bäume. Einen Moment lang war der Geruch fort. Dann war er wieder da, jetzt stärker.
»Was riecht denn hier?« fragte Martinsson.
Im gleichen Augenblick fiel ihm die Antwort selbst ein.
Behutsam ging Wallander weiter, Martinsson blieb dicht hinter ihm.
Dann blieb er abrupt stehen. Er merkte, wie Martinsson zusammenzuckte. Zwischen den Büschen links vor ihm leuchtete etwas. |191| Der Geruch war jetzt sehr intensiv. Martinsson und Wallander sahen sich an. Gleichzeitig legten sie eine Hand über Nase und Mund.
Wallander spürte, wie die Übelkeit in ihm aufwallte. Er versuchte, ein paarmal tief durch den Mund zu atmen, während er sich die Nase zuhielt.
»Warte hier«, sagte er zu Martinsson.
Er merkte, wie seine Stimme bebte.
Dann zwang er sich, weiterzugehen. Er bog ein paar Büsche zur Seite und machte noch ein paar Schritte.
Auf einem ausgebreiteten blauen Leinentuch lagen drei Jugendliche ineinander verschlungen. Sie waren verkleidet und trugen Perücken. Sie waren alle drei durch die Stirn geschossen worden. Und sie befanden sich im Zustand der Verwesung.
Wallander schloß die Augen und ging in die Hocke.
Nach einem Augenblick richtete er sich wieder auf, kehrte auf unsicheren Beinen zu Martinsson zurück und schob ihn fort von der Stelle, als drohe etwas, sie zu verfolgen. Erst als sie wieder auf den Pfad kamen, blieben sie stehen.
»So etwas Entsetzliches habe ich noch nicht gesehen«, stammelte Wallander.
»Sind sie das?«
»Garantiert.«
Wallander erinnerte sich später, in einem Baumwipfel in der Nähe einen Vogel singen gehört zu haben. Alles war wie ein bizarrer Alptraum gewesen und gleichzeitig entsetzliche Wirklichkeit.
Mit ungeheurer Anstrengung zwang sich Wallander, wieder Polizist zu sein, seinen Beruf auszuüben. Er nahm das Handy aus der Jackentasche und rief im Präsidium an. Nach ungefähr einer Minute hörte er Ann-Britts Stimme.
»Hier ist Kurt.«
»Wolltest du nicht heute morgen einen Bankdirektor besuchen?«
»Wir haben sie gefunden. Alle drei. Und sie sind tot.«
Er hörte sie tief und heftig Luft holen.
»Boge und die anderen?«
|192| »Ja.«
»Und sie sind tot?«
»Erschossen.«
»O Gott.«
»Hör zu! Wir brauchen die große Besetzung. Wir befinden uns im Naturreservat Hagestad. Martinsson wird bei der Einfahrt auf euch warten. Lisa muß herkommen. Und wir brauchen viele Leute zum Absperren.«
»Wer verständigt die Eltern?«
Wallander spürte eine Angst, wie er sie kaum je zuvor erlebt hatte. Natürlich mußten die Eltern unmittelbar unterrichtet werden. Sie mußten ihre Kinder identifizieren.
Aber er konnte ganz einfach nicht.
»Sie sind schon lange tot«, sagte er. »Kannst du dir vorstellen, wie sie aussehen? Sie müssen seit über einem Monat tot sein.«
Sie verstand.
»Darüber muß ich mit Lisa sprechen«, fuhr er fort. »Aber wir können die Eltern unmöglich hierherkommen lassen.«
Sie sagte nichts mehr. Das Gespräch war beendet. Wallander blieb stehen und starrte auf das Telefon.
»Es ist das beste, du gehst
Weitere Kostenlose Bücher