Wallander 09 - Der Feind im Schatten
die Uhr gesehen hatte, war es fünf gewesen. Eine gute Stunde später war Baiba verschwunden. Er lief hinaus auf den Hof, aber ihr Wagen war nicht mehr da. Unter einen Stein auf dem Gartentisch hatte sie ein Foto gelegt. Das Bild war 1991 aufgenommen, am Freiheitsdenkmal in Riga. Wallander erinnerte sich noch an den Augenblick. Ein Passant hatte das Foto gemacht. Beide lächelten, eng beieinander, Baiba lehnte den Kopf an seine Schulter. Neben das Foto hatte sie einen Zettel gelegt, der aus einem Kalender herausgerissen war. Sie hatte nichts geschrieben, nur ein einfaches Herz gezeichnet.
Wallander wollte sofort nach Ystad zur Polenfähre fahren. Er saß schon hinterm Lenkrad und hatte den Motor angelassen, als er einsah, dass sie gerade das am wenigsten wollte. Er ging zurück ins Haus und legte sich auf das Bett, in dem er noch den Geruch ihres Körpers spüren konnte.
Er war übermüdet und schlief ein. Als er nach einigen Stunden wach wurde, dachte er an das, was sie gesagt hatte. Hinter jedem Russen stand auch jemand. Es war, als hätte sie ihn auf einen Gedanken gebracht, der mit Håkan und Louise von Enke zu tun hatte. Hinter jedem Russen stand auch jemand.
Wer, dachte er, stand hinter ihnen? Und wer stand hinter wem? Er fand keine Antwort, wusste aber, dass die Frage wichtig war. Er würde sie festhalten.
Er ging hinaus auf den Hof, trug die Leiter, die der Schornsteinfeger bei seinen Besuchen benutzte, ans Haus und kletterte mit einem Fernglas in der Hand aufs Dach.
Dort konnte er die weiße Fähre sehen, die mit Kurs nach Polen vorüberzog. Ein Teil der besten und glücklichsten Zeit seines Lebens war dort an Bord und würde nie wiederkehren. Die Trauer und der Schmerz, die er spürte, waren kaum zu ertragen.
Er blieb auf dem Dach sitzen, als das Müllauto kam. Aber der Mann, der den Müllsack abholte, bemerkte ihn gar nicht, wie er dort, einer verschreckten Krähe gleich, auf seinem Dach saß.
27
Wallander sah das Müllauto davonfahren. Die Fähre nach Polen war von einer Nebelbank verschluckt worden, die auf die schonische Küste zutrieb. Seine Gedanken machten ihm Angst. Nach der langen Nacht hatte Baiba sich auf den Weg gemacht, während er schlief, zur Fähre und zur Ewigkeit. Wenn es denn die Ewigkeit gab, darauf hatte keiner von ihnen eine Antwort. Aber sie war dem Abgrund näher, der geradewegs ins Ungewisse führte. Es war eine Frage von einigen Monaten, hatte sie gesagt. Nicht mehr.
Plötzlich meinte er, sich selbst ganz klar sehen zu können. Einen Mann mit großem Selbstmitleid, eine durch und durch lächerliche Figur. Er saß da auf seinem Dach und war im Grunde erleichtert, dass es Baiba war, die sterben musste, nicht er.
Schließlich kletterte er herunter und nahm Jussi mit auf einen langen Spaziergang, der einer Flucht gleichkam. Er war der, der er war, dachte er hilflos. Ein Mann, der tüchtig war, sogar scharfsinnig in seinem Beruf. Er hatte sein ganzes Leben lang versucht, zu den guten Kräften in der Welt zu gehören, und wenn ihm das nicht gelungen war, dann war er damit nicht allein. Was konnte ein Mensch anderes tun, als es versuchen?
Es hatte sich zugezogen. Er wanderte in Erwartung des Regens mit Jussi über frisch gemähte Wiesen, zwischen Brachland und reifen Feldern, die auf den Mähdrescher warteten. Bei jedem fünfzehnten Schritt versuchte er, seinen Gedanken eine völlig andere Richtung zu geben, ohne dass esihm gelang. Es war ein Spiel, das er mit Linda gespielt hatte, als sie noch ein Kind war. Aber aus dem Spiel war viele Jahre später Ernst geworden, als er versuchte, einen unbekannten Mörder zu identifizieren, der um die Mittsommerzeit eine Gruppe von verkleideten Jugendlichen getötet hatte. Die Ermittlung hatte ihn verunsichert und ihm das wachsende Gefühl vermittelt, völlig die Fähigkeit verloren zu haben, einen Tatort und die wenigen vorliegenden Anhaltspunkte sinnvoll interpretieren zu können. Damals war das alte Spiel wieder zu Ehren gekommen, er war in verschiedenen Phasen der Ermittlungen zur Klarheit gegangen . Jetzt versuchte er, sich Gedanken über sich selbst zu machen, über sein Leben und über Baibas Mut angesichts des Unausweichlichen, das ihr bevorstand, und über den Mut, der ihm sicher fehlte. Er lief auf Feldwegen und an Gräben entlang, ging nicht besonders schnell und ließ Jussi frei laufen.
Wallander war vom Wandern ins Schwitzen geraten und setzte sich an einen kleinen Teich, an dem Teile verrosteter
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