Wallander 09 - Der Feind im Schatten
denken.«
»Es muss schrecklich gewesen sein.«
Wallander wandte sich ab und ging um die Hausecke. Er wollte nicht in Tränen ausbrechen, nicht, weil er Angst hatte, ihr seine Schwäche zu zeigen, sondern um seiner selbst willen. Er wollte ganz einfach nicht an den Tod denken, nicht an Baibas Tod und nicht an seinen eigenen. Er blieb stehen, bis er hörte, dass sie den Wagen anließ und davonfuhr. Sie hatte verstanden, dass er in Ruhe gelassen werden wollte.
Als er in die Küche kam, setzte er sich an den Küchentisch, gegenüber von dem Platz, an dem er sonst seine Mahlzeiten einnahm.
Er dachte an das, was Linda über Håkan von Enke erzählt hatte. Sie waren wieder am Ausgangspunkt.
Er war in einem Kreis gegangen. Und war jetzt auf gewisse Weise wieder da, wo alles angefangen hatte.
28
Wallander stieg die wackelige Treppe zum Dachboden hinauf. Ein muffiger Geruch von Feuchtigkeit und Schimmel schlug ihm entgegen. Er war sich bewusst, dass er eines Tages das gesamte Dach erneuern musste. Aber noch nicht gleich, vielleicht in einem Jahr, vielleicht auch erst in zweien.
Er wusste ungefähr, wohin er den Karton gestellt hatte, nach dem er suchte. Doch jetzt fiel ihm ein anderer Karton ins Auge. In einem Umzugskarton von einer Firma in Helsingborg lag seine Plattensammlung. In all den Jahren in der Mariagata hatte er einen Plattenspieler gehabt. Aber eines Tages war er defekt, und es war Wallander nicht gelungen, ihn reparieren zu lassen. Beim Großputz anlässlich des Umzugs war das Ding auf dem Müll gelandet, aber die Platten hatte Wallander mitgenommen und auf den Dachboden gestellt. Er setzte sich auf den Boden und ging seine alten Alben durch. Jede Plattenhülle barg eine Erinnerung, manchmal deutlich und klar, manchmal auch nur wie ein Flimmern von Gesichtern, Düften, Gefühlen. In seinen ersten Teenagerjahren war er ein beinahe fanatischer Fan von The Spotnicks gewesen. Er besaß ihre vier ersten Platten und kannte noch jeden Titel, als er die Rückseite der Plattencover las. Die Melodien und die E-Gitarren hallten in ihm wider. Auch eine Platte von Mahalia Jackson war in dem Karton. Er hatte sie überraschenderweise von einem der Seidenritter geschenkt bekommen, die die Bilder seines Vaters aufkauften. Wahrscheinlich ging der Mann mit Bildern und Schallplatten hausieren. Wallander hatte ihm geholfen, die Bilder zumWagen zu tragen, und zum Dank diese Platte bekommen. Die Gospelsongs hatten ihn damals stark beeindruckt. Go down, Moses , dachte er und sah seinen ersten Plattenspieler vor sich, bei dem der Lautsprecher im Deckel saß und der ein kratzendes Geräusch von sich gegeben hatte.
Plötzlich hielt er eine Platte von Edith Piaf in den Händen. Das Cover war schwarzweiß und zeigte ihr Gesicht in Nahaufnahme. Er hatte die Platte von Mona bekommen, die The Spotnicks verabscheute und Streaplers und Sven-Ingvars gut fand, vor allem jedoch diese kleine französische Sängerin. Sie verstanden beide kein Wort von dem, was sie sang, aber die Stimme hatte sie ergriffen.
Hinter der Piaf stand eine Platte von John Coltrane. Wie war er an die gekommen? Er wusste es nicht mehr. Als er die Platte aus der Hülle zog, sah er, dass sie nahezu ungespielt war. Obwohl er sich anstrengte, blieb die Platte für ihn stumm. Kein einziger Ton von Coltranes Saxophon klang in seinem Inneren.
Ganz am Ende standen zwei Opernplatten, La Traviata und Rigoletto . Im Gegensatz zu John Coltrane waren sie stark abgespielt.
Er saß auf dem Speicherfußboden und überlegte, ob er den Karton mit hinunternehmen und einen Plattenspieler kaufen sollte, um die Platten wieder hören zu können. Aber am Ende schob er ihn weg. Die Musik, die er heute hörte, hatte er auf Band oder auf CDs. Er brauchte diese kratzenden Vinylplatten nicht mehr. Sie gehörten der Vergangenheit an und sollten auf dem dunklen Dachboden bleiben.
Den Karton, den er gesucht hatte, nahm er mit nach unten und stellte ihn auf den Küchentisch. Er holte eine große Anzahl Legobausteine heraus und breitete sie auf dem Tisch aus. Das Lego hatte er Linda geschenkt, als sie klein war. Es war ein Lotteriegewinn gewesen.
Die Idee stammte von Rydberg. Eines späten Abends imFrühling hatten sie an Rydbergs Küchentisch gesessen, es war in einem von Rydbergs letzten Lebensjahren gewesen. Ein Mann mit einer abgesägten Schrotflinte hatte damals in Ystad und Umgebung eine Reihe von Raubüberfällen begangen. Um die Ereignisse in eine zeitliche Abfolge zu bringen
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