Wallander 09 - Der Feind im Schatten
bewerkstelligen«, sagte Wallander. »Entweder du erzählst selbst, oder du antwortest auf meine Fragen.«
»Stehe ich unter irgendeiner Anklage?«
»Nein. Aber deine Frau ist tot. Somit stehst du unter Verdacht. Das ist automatisch so.«
»Dafür habe ich volles Verständnis.«
Selbstmord oder Mord, dachte Wallander. Du scheinst nicht darüber im Zweifel zu sein, was von beidem zutrifft. Wallander war sich bewusst, dass er behutsam vorgehen musste. Der Mann vor ihm war trotz allem eine Person, über die er sehr wenig wusste.
»Erzähl«, sagte Wallander. »Ich unterbreche dich, wenn etwas unklar ist oder ich etwas nicht verstehe. Du kannst in Djursholm anfangen. An deinem Geburtstag.«
»Das ist das falsche Ende. Ich muss früher anfangen. Es gibt nur einen Ausgangspunkt«, sagte von Enke. »Er ist einfach, aber ganz und gar wahr. Ich habe meine Frau Louise über alles geliebt. Gott möge mir vergeben, was ich jetzt sage, aber ich habe sie mehr geliebt als meinen Sohn. Louise war meine ganze Freude im Leben, sie kommen zu sehen, ihr Lächeln zu sehen, zu hören, wie sie sich in einem angrenzenden Zimmer bewegte.«
Er verstummte und sah Wallander mit einem zugleich eindringlichen und herausfordernden Blick an. Er verlangte eine Antwort oder zumindest eine Reaktion von Wallander.
»Ja«, sagte Wallander. »Ich glaube dir. Es ist sicher wahr, was du da sagst.«
Dann setzte Håkan von Enke zu seiner Erzählung an. »Wir müssen weit in die Vergangenheit zurückgehen. Es gibt keinen Grund, alles bis ins kleinste Detail zu erzählen. Es dauert zu lange und ist auch nicht nötig. Aber wir müssen bis in die sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Ich war damals im aktiven Dienst an Bord verschiedener Schiffe der Marine, zeitweise auf einem unserer modernsten Minensuchboote. Louise arbeitete in jenen Jahren als Lehrerin. In ihrer Freizeit betreute sie junge Wasserspringerinnen und fuhr manchmal nach Osteuropa, hauptsächlich nach Ostdeutschland, das damals mit großem Erfolg neue Talente hervorbrachte. Heute wissen wir, dass diese Erfolge auf einer Mischung von wahnsinnigem, fast an Sklavenhaltung erinnerndem Training und dem Einsatz hochentwickelter Dopingpräparate beruhte. Ende der siebziger Jahre wurde ich befördert und in den höchsten operativen Führungsstab der Marine berufen. Das bedeutete viel Arbeit, auch zu Hause. Mehrmals in der Woche nahm ich Dokumente, die der Geheimhaltung unterlagen, mit in die Wohnung. Ich hatte einen Waffenschrank, weil ich auch jagte, hauptsächlich Rehe, aber dann und wann nahm ich auch an den jährlichen Elchjagden teil. Ich hielt meine Gewehre und die Munition unter Verschluss und stellte auch meine Aktenmappe mit Dokumenten in den Waffenschrank, nachts oder wenn Louise und ich ausgingen, sei es ins Theater oder zu einer Abendgesellschaft.«
Er hielt inne, nahm den Teebeutel aus der Tasse, legte ihn auf die Untertasse und fuhr fort: »Wann merkt man, dass etwas nicht so ist, wie es sein soll? Die kaum sichtbaren Anzeichen dafür, dass etwas verändert oder bewegt worden ist? Ich vermute, dass du als Polizist häufig in Situationen gerätst, in denen du so vage Signale auffängst. Eines Morgens merkte ich, als ich den Waffenschrank aufschloss, dass etwasnicht so war, wie es sein sollte. Ich kann mich noch immer an das Gefühl erinnern. Ich wollte gerade meine braune Aktentasche herausnehmen, als ich innehielt. Hatte ich sie wirklich so hingestellt, wie sie jetzt stand? Mein Zweifel hatte etwas mit dem Schloss und der Richtung des Griffs zu tun. Mein Zögern dauerte fünf Sekunden, nicht länger. Dann verwarf ich den Gedanken. Ich kontrollierte immer, dass alle Papiere in der richtigen Reihenfolge abgelegt waren. An diesem Morgen machte ich keine Ausnahme. Ich dachte nicht mehr an die Angelegenheit. Ich halte mich für einen guten Beobachter mit einem guten Gedächtnis. Zumindest war es früher so. Wenn man älter wird, verschlechtern sich nach und nach alle Fähigkeiten, man kann den Verfall nur hilflos zur Kenntnis nehmen. Du bist jünger als ich, aber du hast vielleicht auch diese Erfahrung gemacht?«
»Die Augen«, sagte Wallander. »Alle zwei Jahre brauche ich eine neue Brille. Und ich glaube, ich höre auch nicht mehr so gut wie früher.«
»Der Geruchssinn hält dem Altern am besten stand. Er ist der einzige meiner Sinne, der mir noch unbeeinträchtigt vorkommt. Blumendüfte können genauso markant und klar sein wie früher.«
Sie
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