Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Entzugsklinik liegt«, sagte er schließlich.
»Das siehst du morgen. Es wird eine Überraschung.«
In der Nacht zog ein Tiefdruckgebiet über Schonen herauf. Als sie am nächsten Morgen um kurz nach acht im Auto saßen, um nach Osten zu fahren, hatte es angefangen zu regnenund zu stürmen. Wallander fühlte sich miserabel. Er hatte schlecht geschlafen und war müde, als Linda ihn abholte. Sie schickte ihn sofort zurück ins Haus, um die verwaschene alte Hose zu wechseln, die er angezogen hatte.
»Du brauchst nicht schick zu sein, um sie zu besuchen. Aber so schäbig solltest du auch nicht aussehen.«
Sie bogen auf die Nebenstraße zu dem alten Schloss Glimmingehus ein. Linda warf ihm einen Blick zu. »Weißt du noch?«
»Natürlich weiß ich noch.«
»Wir haben Zeit genug. Wir können anhalten.«
Linda fuhr auf den Parkplatz vor den hohen Schlossmauern. Sie stiegen aus und gingen über die Zugbrücke auf den Schlosshof.
»Es ist eine der frühesten Erinnerungen meines Lebens«, sagte Linda. »Als du und ich hier waren. Und du hast mir mit deinen Spukgeschichten einen Riesenschrecken eingejagt. Wie alt war ich damals?«
»Als wir das erste Mal hier waren, warst du gerade vier geworden. Aber da habe ich dir keine Spukgeschichten erzählt. Das habe ich getan, als du sieben warst, glaube ich. Vielleicht in dem Sommer, bevor du in die Schule kamst.«
»Ich weiß noch, wie stolz ich auf dich war«, sagte sie. »Mein großer, toller Papa. Ich denke manchmal an diese Augenblicke zurück, als ich ganz geborgen und total glücklich darüber war, auf der Welt zu sein.«
»Ich habe es damals genauso erlebt«, antwortete Wallander aufrichtig. »Das waren wohl die besten Jahre, als du klein warst.«
»Was wird aus dem Leben?«, sagte Linda. »Denkst du so? Jetzt, wo du sechzig bist?«
»Ja«, sagte er. »Vor einigen Jahren ertappte ich mich dabei, dass ich die Todesanzeigen in Ystads Allehanda studierte. Wenn mir eine andere Tageszeitung in die Hände fiel, las ich auch da die Todesanzeigen. Immer öfter fragte ich mich, waswohl aus meinen Klassenkameraden in Limhamn geworden war. Wie war ihr Leben verlaufen? Im Vergleich mit meinem? Ich fing ein wenig halbherzig an, Informationen zu sammeln.«
Sie setzten sich auf die Steintreppe, die in die Burg führte. »Wir Jungs, die im Herbst 1955 eingeschult wurden, haben wahrlich ganz unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen. Ich glaube, ich weiß heute, wie es den meisten ergangen ist. Viele hatten wenig Glück. Einige sind tot, einer erschoss sich nach seiner Auswanderung nach Kanada. Einige haben geschafft, was sie sich vorgenommen hatten, wie Sölve Hagberg, der Kvitt eller dubbelt gewonnen hat. Die meisten haben ein arbeitsreiches Leben geführt, ohne viel Aufhebens davon zu machen. So war eben ihr Leben. Und so war meins. Mit sechzig hat man fast alles hinter sich, das muss man einfach akzeptieren, auch wenn es schwerfällt. Es gibt nur noch wenige wichtige Entscheidungen, die vor einem liegen.«
»Hast du das Gefühl, dass dein Leben aufs Ende zugeht?«
»Manchmal.«
»Was denkst du dann?«
Er zögerte mit der Antwort. Dann sagte er es, wie es war. »Dass ich darum trauere, dass Baiba nicht mehr lebt. Dass es zwischen uns beiden nie etwas geworden ist.«
»Es gibt andere«, sagte Linda. »Du brauchst nicht allein zu sein.«
Wallander stand auf. »Nein«, sagte er. »Es gibt keine anderen. Baiba war nicht austauschbar.«
Sie gingen zum Wagen zurück und fuhren weiter zu der Klinik, die nicht weit entfernt lag. Es war ein großer Fachwerkhof, im Viereck um einen gut erhaltenen Innenhof gebaut. Mona saß auf einer Bank und rauchte, als sie den mit Kieseln gepflasterten Innenhof betraten.
»Hat sie angefangen zu rauchen?«, fragte Wallander. »Sie hat doch früher nicht geraucht.«
»Sie sagt, sie täte es, um sich zu trösten. Und dass sie wieder aufhören könne, wenn das hier vorbei ist.«
»Und wann ist es vorbei?«
»Sie bleibt noch einen Monat hier.«
»Und Hans bezahlt das?«
Sie antwortete nicht auf die Frage, weil die Antwort selbstverständlich war. Mona stand auf, als sie zu ihr kamen. Wallander betrachtete ihr blassgraues Gesicht und die schweren Tränensäcke unter den Augen mit Widerwillen.
»Es ist nett von dir, dass du kommst«, sagte sie und gab ihm die Hand.
»Ich wollte doch sehen, wie es dir geht«, murmelte er.
Sie setzten sich zu beiden Seiten von Mona auf die Bank. Wallander wollte sofort wieder weg. Dass Mona mit
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