Wallander 10 - Wallanders erster Fall
Zeit wird langsam knapp. Niemand weiß, wie lange ich noch lebe. Aber ich will die Pyramiden und Rom sehen, bevor ich sterbe.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Mit wem willst du fahren?«
»Ich fliege in ein paar Tagen mit Egypt Air. Direkt nach Kairo. Ich wohne in einem sehr feinen Hotel, das Mena House heißt.«
»Du willst wirklich allein reisen? Hast du eine Charterreise gebucht? Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Wallander ungläubig.
Der Vater streckte sich nach ein paar Tickets, die auf der Fensterbank lagen. Wallander überflog sie und sah ein, daß der Vater die Wahrheit sagte. Er würde am 14. Dezember mit einem Linienflug von Kopenhagen nach Kairo fliegen.
Wallander legte die Tickets auf den Tisch.
Ausnahmsweise einmal war er vollkommen sprachlos.
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Um Viertel nach zehn fuhr Wallander von Löderup aus nach Hause. Die Wolkendecke war aufgerissen. Auf dem Weg zum Wagen hatte er gemerkt, daß es kälter geworden war. Was wiederum bedeutete, daß sein Peugeot noch schlechter anspringen würde als gewöhnlich. Aber es war eigentlich nicht das Auto, das seine Gedanken in Anspruch nahm, sondern die Tatsache, daß es ihm nicht gelungen war, seinen Vater zu überreden, die Reise nach Ägypten abzusagen. Oder zumindest auf eine Gelegenheit zu warten, wo entweder er oder seine Schwester ihn begleiten konnten.
»Du bist fast achtzig«, hatte Wallander ihm vorgehalten. »Da fährt man nicht einfach so in der Welt herum.«
Aber seine Argumente waren fadenscheinig. Die Gesundheit seines Vaters ließ offensichtlich nichts zu wünschen übrig. Obwohl er sich manchmal merkwürdig kleidete, hatte er die Fähigkeit, sich den unterschiedlichsten Situationen und Menschen anzupassen. Als Wallander sich außerdem vergewissert hatte, daß der Transfer vom Flugplatz zum Hotel, das direkt bei den Pyramiden lag, inbegriffen war, versiegten seine besorgten Einwände langsam. Was seinen Vater nach Ägypten zog, wußte er nicht. Aber er konnte auch nicht leugnen, daß ihm sein Vater tatsächlich vor vielen Jahren, als Wallander noch klein war, bei mehreren Gelegenheiten von den merkwürdigen Gebilden erzählt hatte, die in der Ebene von Gizeh vor den Toren von Kairo standen.
Danach hatten sie Poker gespielt. Da der Vater am Ende mit einem Plus dastand, war er ausgesprochen zufrieden, als Wallander sich verabschiedete.
Wallander blieb mit der Hand am Griff der Autotür stehen und sog die Nachtluft ein.
Ich habe einen merkwürdigen Vater, dachte er. Daran führt jedenfalls kein Weg vorbei.
Wallander hatte versprochen, ihn am Morgen des 14. Dezember nach Malmö zu fahren. Er hatte die Telefonnummer des Mena House notiert, in dem sein Vater wohnen sollte. Da sein Vater selbstverständlich nicht unnötig Geld zum Fenster hinauswarf, |295| indem er eine Reiseversicherung abschloß, wollte Wallander Ebba am nächsten Tag bitten, das zu erledigen.
Der Wagen startete widerwillig, und er fuhr in Richtung Ystad. Das letzte, was Wallander sah, war das Licht im Küchenfenster. Der Vater saß gewöhnlich noch bis tief in die Nacht in der Küche, bevor er ins Bett ging. Wenn er nicht in sein Atelier zurückging und noch ein paar Pinselstriche auf einem seiner neuen Bilder anbrachte. Wallander dachte an das, was Blomell früher am Abend gesagt hatte: daß die Einsamkeit für alte Menschen ein Fluch ist. Sein Vater lebte jedenfalls nicht anders, seit er älter geworden war. Er fuhr fort, seine Bilder zu malen, als hätte sich eigentlich gar nichts verändert, weder um ihn herum noch mit ihm selbst.
Kurz nach elf war Wallander wieder in der Mariagata. Als er die Haustür aufschloß, bemerkte er, daß jemand einen Brief durch den Briefschlitz geworfen hatte. Er öffnete den Umschlag und wußte schon, von wem er war. Emma Lundin, Krankenschwester im Krankenhaus von Ystad. Wallander hatte ihr versprochen, am Tag zuvor anzurufen. Sie kam normalerweise auf dem Nachhauseweg in die Dragongata an seinem Haus vorbei. Jetzt wollte sie nur wissen, ob etwas geschehen war. Warum hatte er nicht angerufen? Wallander bekam ein schlechtes Gewissen. Er hatte sie vor einem Monat kennengelernt. Sie waren zufällig im Postamt in der Hamngata ins Gespräch gekommen. Ein paar Tage später waren sie in einem Lebensmittelgeschäft aufeinandergestoßen und hatten schon nach ein paar weiteren Tagen ein Verhältnis begonnen, das von keiner Seite sonderlich leidenschaftlich war. Emma war ein Jahr jünger als Wallander, sie war geschieden und
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