Wallander 10 - Wallanders erster Fall
Wallanders Zimmer gekommen war, hatte er ihr die Hand gegeben und sie freundlich gebeten, Platz zu nehmen. Sie war ungefähr sechzig Jahre alt und hatte ein mageres Gesicht. Wallander dachte, daß sie sicher ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet hatte. Hansson verließ das Zimmer, und Wallander suchte sich aus den Kollegblöcken, die stapelweise in seinen Schubläden lagen, einen aus. Er begann damit, seinem Bedauern über das Geschehene Ausdruck zu verleihen. Er verstehe, daß sie aufgewühlt sei. Dennoch könne er mit seinen Fragen nicht warten. Es sei ein schweres Verbrechen begangen worden. Jetzt gelte es, so schnell wie möglich den Täter und das Motiv zu identifizieren.
»Fangen wir ganz vorn an«, sagte er. »Sie haben in Simon Lambergs Fotoatelier geputzt?«
Sie antwortete sehr leise. Wallander mußte sich vorbeugen, um sie zu verstehen.
»Ich habe zwölf Jahre und sieben Monate bei ihm geputzt. Dreimal in der Woche. Montags, mittwochs und freitags.«
»Wann sind Sie heute morgen in den Laden gekommen?«
»Um kurz nach fünf. Ich putze in allen Geschäften morgens. Und Lambergs war immer das erste.«
»Ich nehme an, Sie haben einen eigenen Schlüssel?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Wie sollte ich sonst hineinkommen? Lamberg hat nie vor zehn Uhr aufgemacht.«
Wallander nickte und fuhr fort. »Sind Sie von der Straße aus hineingegangen?«
»Es gibt keinen Hintereingang.«
|200| Wallander notierte.
»Und die Tür war verschlossen?«
»Ja.«
»Das Schloß war nicht aufgebrochen?«
»Ich habe jedenfalls nichts bemerkt.«
»Was geschah dann?«
»Ich ging hinein, stellte meine Handtasche ab und zog meinen Mantel aus.«
»Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Er merkte, daß sie wirklich nachdachte und versuchte, sich zu erinnern.
»Es war alles wie immer. Gestern morgen hat es geregnet. Der Fußboden war ungewöhnlich schmutzig. Ich wollte meine Eimer und Putzlappen holen.«
Sie brach plötzlich ab.
»Und da haben Sie ihn entdeckt?«
Sie nickte stumm.
Einen Moment lang fürchtete Wallander, sie könnte zusammenbrechen, aber sie holte tief Luft und faßte sich.
»Um wieviel Uhr haben Sie ihn entdeckt?«
»Um neun Minuten nach fünf.«
Er sah sie erstaunt an. »Wieso wissen Sie das so genau?«
»An der Wand im Atelier hängt eine Uhr. Ich habe sofort darauf geguckt. Vielleicht, um ihn nicht tot daliegen sehen zu müssen. Vielleicht auch, weil ich den exakten Zeitpunkt des schrecklichsten Anblicks in meinem ganzen Leben wissen wollte.«
Wallander nickte. Er glaubte zu verstehen. »Und was taten Sie dann?«
»Ich bin auf die Straße hinausgelaufen. Ich weiß nicht mehr, ob ich geschrien habe. Aber es kam ein Mann. Er rief von einer Telefonzelle in der Nähe die Polizei an.«
Wallander legte für einen Moment den Bleistift fort. Jetzt hatte er Hilda Waldéns Zeitplan bekommen. Er zweifelte nicht an seiner Richtigkeit.
»Können Sie mir erklären, warum Lamberg sich so früh am Morgen im Laden aufgehalten hat?«
Ihre Antwort kam schnell und entschieden. Wallander sagte sich, |201| daß sie über die Frage nachgedacht haben mußte, bevor er sie gestellt hatte.
»Manchmal ging er abends noch ins Atelier. Er blieb aber nie länger als bis Mitternacht. Es muß vorher passiert sein.«
»Woher wissen Sie das alles? Wenn Sie doch morgens saubermachen?«
»Vor einigen Jahren habe ich mal mein Portemonnaie im Putzkittel vergessen. Als ich es bemerkt habe, bin ich losgegangen, um es zu holen. Da war er im Laden. Er erzählte mir, daß er an zwei Abenden in der Woche ins Atelier käme.«
»Um zu arbeiten?«
»Er saß wohl meistens im Hinterzimmer und pusselte mit seinen Papieren. An dem Abend, an dem ich dort war, hatte er das Radio an.«
Wallander nickte nachdenklich. Vermutlich hatte sie recht. Der Mord war nicht erst am Morgen, sondern bereits am Abend zuvor geschehen. Er sah sie an. »Haben Sie eine Ahnung, wer es gewesen sein kann?«
»Nein.«
»Hatte er irgendwelche Feinde?«
»Ich weiß es nicht. Ich kannte ihn nicht gut genug. Ich habe dort nur saubergemacht.«
Wallander ließ nicht locker. »Sie haben mehr als zwölf Jahre bei ihm saubergemacht. Sie müssen ihn doch kennengelernt haben. Seine Gewohnheiten. Marotten. Etwas in der Art.«
»Ich kannte ihn überhaupt nicht. Er war sehr reserviert.«
»Können Sie ihn denn beschreiben?«
Ihre Antwort irritierte ihn.
»Wie beschreibt man einen Menschen, der so anonym ist, daß er fast eins wird mit der Wand?«
Er schob
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