Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
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ich mir wie der Gott der Heilkunst höchstpersönlich vorkam. Der alte Mann riß mir den Helm aus der Hand und goß sich den Inhalt ins Gesicht. Doch keiner von uns, nicht einmal er selbst, hatte bemerkt, daß ihm von einem Säbelhieb ein riesengroßes Loch in die Kehle gerissen worden war, aus dem der Großteil des Wassers natürlich direkt auf den Boden floß. Einen Augenblick später gab der Mann eine Art rasselndes Geräusch von sich, das so klang, als würde jemand nach einer Zahnextraktion mit Salzwasser gurgeln, kippte um und starb. Die ganze Hilfsaktion war also reine Zeitverschwendung gewesen.
Übrigens habe ich, wie mir erst jetzt richtig bewußt wird, bei dieser Gelegenheit zum erstenmal einen Menschen von so nahem sterben sehen, daß ich dabei seinen Gesichtsausdruck beobachten konnte.
Nach dieser fruchtlosen Anstrengung fanden wir noch ein kleines Mädchen – es konnte nicht älter als acht oder neun Jahre sein –, dem direkt am Schulteransatz ein Arm abgeschlagen worden war. Vor lauter Angst und Schmerzen hatte es sich naß gemacht, und darüber schien das Mädchen viel betrübter zu sein als über die Verletzung.
Dabei weinte oder kreischte es nicht einmal, sondern quengelte nur wie jedes andere kleine Kind. Die Mutter hatte gerade alles getan, was in ihrer Macht stand, um die Blutung zu stillen, und versuchte jetzt, ihrem Kind die nassen Kleider auszuziehen, wobei sie schimpfte, weil das Mädchen nicht stillhielt. Ehrlich, beim Anblick der beiden spürte ich den starken Drang, mich auszuschütten vor Lachen, aber vielleicht lag es auch nur daran, daß ich langsam hysterisch wurde. Möglicherweise denken Sie 150
jetzt, daß das aus dem Mund von jemandem, der die Pest in Athen erlebt hat, ein bißchen komisch klingt, aber ich versichere Ihnen, das beides nichts miteinander zu tun hatte. Während der Pest gab es nämlich keine Wunden und kein Blut, sondern nur unzählige Leichen, und außerdem war ich zu jener Zeit noch viel jünger. In einer Hinsicht ähnelte das Gemetzel allerdings der Pest, denn so sehr mir das ganze Elend auch an die Nieren ging, so konnte ich mich doch nicht dagegen wehren, alle die kleinen Einzelheiten wahrzunehmen – und das nicht etwa deshalb, weil sie besonders ans Herz gingen oder abstoßend waren, sondern einfach nur deshalb, weil sie als merkwürdige Beispiele menschlichen Verhaltens interessant waren.
Aber ich sollte lieber damit aufhören, auf diese Weise weiterzuerzählen, denn sonst gewinnen Sie noch den Eindruck, ich sei eine Art leichenfressender Dämon wie dieser abscheuliche Chairophon, jener Forscher, der durch die Gegend zieht und zusieht, wie anderen Leuten die Gallensteine herausgeschnitten werden. Bitte glauben Sie nicht, mir hätte auch nur das geringste davon gefallen, was ich damals vor dem Dorf mitansehen mußte. Ich stand Todesängste aus, zumal ich felsenfest davon überzeugt war, daß jeden Moment die spartanische Fußtruppe eintreffen werde, um die einmal begonnene Arbeit zum Abschluß zu bringen. Ich glaube, Kallikrates schien trotz aller guten Vorsätze, den Verwundeten zu helfen, ziemlich dasselbe zu denken, denn er warf immer wieder besorgte Blicke über die Schulter zurück. Obwohl ich eine Heidenangst hatte, kam mir allerdings nie ernsthaft in den Sinn, daß auch mir etwas zustoßen könnte; viel eher war 151
ich daran interessiert, kein weiteres Massaker miterleben zu müssen. Anscheinend hatte ich die Illusion, nicht wirklich am Geschehen teilzunehmen, als wäre ich nur ein Tourist von einer der Inseln oder ein Gott, der sich unsichtbar machen kann.
Mein Vetter und ich bereiteten uns bereits auf die Flucht vor, als auf einmal durch meinen Fuß ein unglaublich heftiger Schmerz zog und sich herausstellte, daß ich auf eine abgebrochene Säbelklinge getreten war und mir eine tiefe Schnittwunde an der rechten Ferse zugezogen hatte.
Diese Tatsache teilte ich sogleich Kallikrates mit, der daraufhin in sich zusammensackte, als sei ihm von jemandem das Rückgrat gebrochen worden.
»Du Narr!« fluchte er kläglich. »Wozu hast du das jetzt bloß wieder angestellt?«
Ich erklärte ihm, daß ich nicht absichtlich auf die Klinge getreten sei und irgendwo meine rechte Sandale verloren haben müsse; aus irgendeinem Grund hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, wobei ich allerdings spürte, wohl den falschen Moment erwischt zu haben. Kallikrates riß einen Stoffstreifen aus seinem Umhang und verband meinen Fuß so gut wie möglich. Doch
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