Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer
sich jedoch nie befunden; es sei denn, sie wurden von ihresgleichen bedroht. Heute hingegen sind die Wähler und Geschworenen derart aufgestachelt, daß sie jeden verurteilen; und da nicht mehr genug große Männer da sind, die man ihnen zum Fraß vorwerfen kann, sind sie hungrig geworden, und deshalb verschlingen sie alles, was ihnen die Spitzel auftischen, wie zum Beispiel mich. Und alle diese gescheiten Reden, mit denen man sie früher abspeisen konnte, als sie wohlgenährt waren und wußten, wer ihr Gebieter war und woher der nächste Feldherr stammte, schmecken ihnen heute überhaupt nicht mehr.«
»Aber ist das nicht der Grund, weshalb man Geschworener wird?« wandte Phaidra ein. »Ich dachte immer, der ganze Reiz liege daran, daß man für das Zuhören von gescheiten Reden auch noch bezahlt wird, um dann für diejenige zu stimmen, die einem am besten gefällt. Dieses ganze Blutvergießen ist doch nur ein zusätzlicher Nervenkitzel.«
»Früher war das vielleicht so, nur fürchte ich, daß das heute nicht mehr gilt. Diese Leute sind längst nicht mehr wie harmlose Jagdhunde, die für jemand anderen das Opfer nur hetzen, sie sind wie Wölfe, die Beute reißen wollen. Ich glaube wirklich nicht, daß eine kluge Rede irgend etwas nützen würde.«
Phaidra schwieg für einen Moment und sagte schließlich: »Wenigstens könntest du’s versuchen. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Wie wäre es, wenn du versuchst, eine Rede nach altbewährtem Muster zu halten? Einiges davon, was du mir eben erzählt hast, könntest du durchaus dafür verwenden, falls du dich überhaupt noch an irgend etwas davon erinnern kannst. Nichts liebt ein athenisches Publikum mehr, als beleidigt zu werden.«
Während Phaidra das sagte, schien sich bei mir im Hinterkopf so etwas wie eine Idee zu entwickeln. Ich hatte zwar noch keine klare Vorstellung, worum es sich dabei genau handelte, aber ich sah eine entfernte Möglichkeit. Wahrscheinlich hatte Phaidra nichts davon mitbekommen, denn sie fuhr fort: »Hauptsache, du gibst dir endlich mal etwas Mühe. Was mich wirklich wütend macht, ist die Art und Weise, wie du dich mit deinem Schicksal abfindest.«
Ich lächelte sie an. »Was bleibt mir denn anderes übrig?«
Phaidra runzelte die Stirn und rief Thrax herbei. »Hier sind acht Obolen«, sagte sie, wobei sie ihm eine Drachme in die Hand drückte und sich von mir rasch ein Zwei-Obolen-Stück auslieh. »Geh bitte zum Marktplatz und kauf dort eine halbe Mine Anschovis für mich ein, ja?« Thrax nickte und machte sich sofort auf den Weg. »Wir haben seit einer Woche keine Anschovis mehr gegessen, und ich habe plötzlich unglaublichen Appetit darauf.«
»Warum hast du denn so plötzlich das Thema gewechselt?« fragte ich leicht verwirrt. »Oder solltest du tatsächlich zum erstenmal meiner Meinung sein?«
»Ich wäre nicht einmal deiner Meinung, wenn du außer mir der letzte Mensch auf der ganzen Erde wärst«, antwortete Phaidra lächelnd. »Aber bis Thrax zurück ist, laß uns bitte mal über etwas anderes sprechen.«
»Und was?«
»Ach, ich weiß nicht. Sing mir doch einfach ein paar nette Chorzeilen vor oder etwas in der Richtung.«
Ich blickte sie argwöhnisch an. »Manchmal verhältst du dich wirklich merkwürdig. Was willst du eigentlich damit bezwecken?«
»Ich will gar nichts bezwecken. Warum glauben Ehemänner bloß immer, daß ihre Frauen irgend etwas damit bezwecken wollen, wenn sie ihren Gatten mal darum bitten, ihnen etwas vorzusingen?«
»Aber du verabscheust doch meinen Gesang. Du sagst immer, er schieße dir direkt durch den Kopf, wie ein Pfeil oder so was.«
»Na gut, wenn du nicht singen willst, dann erzähl mir eben eine Geschichte.«
»Wozu soll das alles dienen, Phaidra?«
Sie blickte mich finster an. »Würdest du mir jetzt bitte eine Geschichte erzählen?«
»Was für eine Geschichte?«
»Woher soll ich das wissen? Bist du denn zu gar nichts mehr zu gebrauchen?«
Also begann ich, ihr die Geschichte von Jason und den Argonauten zu erzählen. Um aber alles ein wenig interessanter zu gestalten, machte ich es so, wie es Alkibiades im betrunkenen Zustand getan hätte. Das brachte Phaidra zum Lachen, und sie war sehr zufrieden mit mir; was durchaus verständlich war, denn damals bestand ein Großteil der Beschäftigung eines Komödiendichters darin, sich über Alkibiades und dessen ständiges Lispeln lustig zu machen. Als ich gerade voll in Fahrt gekommen war, kam Thrax vom Markt zurück. Phaidra unterbrach
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