Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer
die Syrakuser glauben zu lassen, er sei genauso einfallslos wie Nikias. Was er tatsächlich beabsichtigte, war etwas in seiner Kühnheit, seiner Neuheit und seinem bloßen Ehrgeiz durch und durch Athenisches. Kaum hatte er zum erstenmal den Epipolai zu Gesicht bekommen und erfahren, daß dort oben von den Syrakusern drei große Lager errichtet worden waren, hatte er sich entschlossen, die Stellung nachts anzugreifen. Schließlich hatte noch nie zuvor jemand so etwas getan, so daß der Überfall völlig unerwartet käme. In der Dunkelheit wäre den Syrakusern ihre Ortskenntnis nicht nützlich – und vor allem auch ihre Pfeile, Speere und Schleudern nicht, von denen er schon soviel gehört hatte. Sobald wir uns erst einmal innerhalb der Stadtmauern befänden, so war die Überlegung, wäre der Feind zu Tode erschreckt und wüßte nicht, wo wir uns befänden oder was wir beabsichtigten, so wie es einst die Verteidiger in Troja gewesen waren, als die Griechen aus dem hölzernen Pferd herauskamen. Durch das Rufen geheimer Parolen sollten wir miteinander in Verbindung bleiben, was den Syrakusern noch mehr Angst einjagen würde.
Als uns dies mitgeteilt wurde, wußten wir nicht, was wir davon halten sollten; doch die bloße Klugheit des Ganzen nahm unsere Phantasie so gefangen, daß wir kaum den Einbruch der Nacht abwarten konnten. Obwohl die meisten von uns durch die tagsüber geleistete Arbeit vollkommen erledigt waren, konnten wir nicht stillsitzen, um auszuruhen; dazu waren wir alle viel zu aufgeregt. Eins war sicher: Dieser Einsatz unterschied sich gänzlich von allen anderen Feldzügen, an denen je einer von uns teilgenommen hatte. Kein Marschieren den lieben langen Tag mit einem schweren Sack auf dem Rücken, kein Errichten endloser Mauern aus unersichtlichem Grund und kein Auf- und Abgehen vor unüberwindlichen Bollwerken, wobei man sich stets wünschte, jemand anders zu sein. Es herrschte das allgemeine Gefühl vor, an etwas ganz Besonderem und Wichtigem beteiligt zu sein, und jeder unterhielt sich, sehr ruhig und eindringlich, mit jedem – nicht nur mit Freunden, Verwandten und Nachbarn, sondern mit Menschen vom anderen Ende Attikas, denen man noch nie begegnet war, oder sogar mit Ausländern. Wir alle spürten plötzlich, daß Demosthenes unser Freund war, jemand, den wir persönlich kannten – und der natürlich nach wie vor unser Führer war; er trug die Verantwortung und war irgendwie unfähig zu versagen. Es war so, als sei man wieder ein Kind und gehöre zu einer dieser Banden von Hirtenjungen, die einen König wählen und verwegene Überfälle auf anderer Leute Obstgärten machen; da war der gleiche Kitzel, an etwas Verwegenem und Aufregendem teilzunehmen, gewürzt mit einer kräftigen Prise Gefahr, aber keiner wirklichen Angst vor Tod oder Verwundung. Es ist nur schwer vorstellbar, daß sich erwachsene Männer so fühlen. Vielleicht war das so, weil ganz Athen zugegen zu sein schien; man hatte das Gefühl, eher an einem Festspiel oder an einer Urlaubsreise teilzunehmen als an einer militärischen Expedition, da so viele von den eigenen Freunden und Nachbarn um einen herum waren. Natürlich gab es auch eine Menge Fremde, aber man ahnte, daß man zwangsläufig jemanden kennen mußte, der auch ihnen bekannt war. Bei Einbruch der Dämmerung zündeten wir die Lagerfeuer an und verhielten uns wie Soldaten, die sich demnächst schlafen legen wollten. Während wir umherspazierten, stießen wir immer wieder zufällig auf Bekannte, Freunde, entfernte Vettern und dergleichen. Ich begegnete allein fünf oder sechs Männern, die in meinen Chören gewesen waren, vielen Nachbarn und (wie sollte es anders sein) Aristophanes, Sohn des Philippos. Er hielt etwas in den Armen, das wie ein Säugling aussah, und schlich gerade verstohlen um die Rückseite eines Zeltes herum, und als ich laut seinen Namen rief, tat er einen gewaltigen Satz in die Luft.
»Menschenskinder! Was soll das?« fauchte er mich an, als er mich erkannte.
»Was hältst du denn da unter deinem Umhang versteckt in den Armen, Aristophanes?« wollte ich wissen. »Du benimmst dich äußerst merkwürdig.«
»Seit wann hast du deiner Liste von Fertigkeiten das Ausspionieren hinzugefügt?« murmelte er. »Komm, sei ein braver Junge, und geh mit den Syrakusern spielen.«
Plötzlich kam mir der Gedanke, daß es sich bei Aristophanes’ Säugling um einen Weinschlauch handeln könnte. »Laß mich raten, was du unter deinem Umhang versteckst«, beharrte ich mit
Weitere Kostenlose Bücher