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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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tränenüberströmte Gesichter im Publikum zu sehen. Mehrere Komödiendichter, darunter Aristophanes, bemühten sich verzweifelt, Vorausexemplare dieser Stücke in die Finger zu bekommen, indem sie die Sklaven des Archons bestachen oder die Schauspieler betrunken machten, um auf diese Weise einiges von dem Stoff in ihren nächsten Komödien als parodistische Bruchstücke einarbeiten zu können. Selbst ich verspürte einen gewissen Zorn darüber, daß Euripides nicht den Anstand besaß, seine grotesken Possen rechtzeitig genug aufzuführen, damit ich sie noch in meinem Meisterwerk verwenden konnte, zumal ich mich gezwungen gesehen hatte, noch einmal über den Telephos herzuziehen, was ich als das einzige Manko an meiner Komödie empfand.
    Natürlich sind Sie mit diesen beiden Furunkeln am Hintern der Tragödie – namentlich mit Euripides’ Helena und Andromeda – bestens vertraut und wundern sich, was die ganze Aufregung damals sollte. Doch wenn Sie sich das über die damaligen Umstände Erzählte vor Augen halten, gab es in diesen Stücken einige Merkwürdigkeiten, besonders in der Helena. Beispielsweise werden in der Helena zumeist ohne jegliche Rechtfertigung durch die Handlung oder die Rollentexte endlose Loblieder auf die Spartaner gesungen. Wenn es in Euripides’ Absicht lag, das Publikum zu schockieren, hatte er damit zweifellos Erfolg, und etliche Leute von durchschnittlicher Intelligenz waren davon sogar tief beeindruckt. Zudem kommt diese außergewöhnliche Zeile vor, in der es heißt, daß selbst die am weitesten gereisten Menschen den Unterschied zwischen wahren und falschen Göttern sowie halbgöttlichen und halbmenschlichen Dingen nicht erkennen können. Wenn ein Mann für schwerverständliche Tiefgründigkeit bekannt ist, wie es bei Euripides der Fall ist, kann er sich offenbar erlauben, einfach alles zu sagen, und das Publikum wird stets seine ganze Kraft aufbieten, um etwas ganz Wunderbares hineinzudeuten; und an Idioten, die Euripides’ Unfug als hochintelligente Anmerkung zu den zerschlagenen Statuen und der Expedition nach Sizilien verstanden, herrschte wahrhaftig kein Mangel. Ich erinnere mich sogar daran, daß mir etwa eine Woche nach den Festspielen ein Barbier beim Bartstutzen den ganze Unsinn in allen Einzelheiten erklärte und ich mit ihm nicht diskutieren konnte, da ich Angst hatte, das Kinn zu heftig zu bewegen und die Kehle durchgeschnitten zu bekommen. Aufgrund meiner Zwangslage tat ich damals so, als wäre ich von seinen Ausführungen vollkommen überzeugt; aber leider kann ich mich nach der langen Zeit an kein einziges Wort mehr erinnern.
    Wegen der Aufregung um Euripides, der politischen Ereignisse und des Kriegs war niemand mehr besonders begierig, im voraus herauszufinden, was Eupolis in jenem Jahr auf die Bühne bringen wollte; wie ich hörte, war man sogar allgemein der Ansicht, Eupolis habe seine besten Jahre hinter sich und seit dem Marikas nichts Nennenswertes mehr geschrieben; er sollte sich lieber in stiller Dankbarkeit zur Ruhe setzen und einem der Nachwuchsdichter eine Chance geben. Dieses Gerede machte mich nur entschlossener, allen zu zeigen, daß ich immer noch etwas zu sagen hatte, und bei den Proben ging ich den Beteiligten immer häufiger auf die Nerven, und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Philonides und die Schauspieler endlich einen – wenn auch unsicheren – Waffenstillstand geschlossen hatten. Durch meine Einmischung, die hauptsächlich aus völlig unsinnigen Forderungen bestand (beispielsweise, daß die Chorauftritte noch aufsehenerregender gestaltet werden oder die Schauspieler komplette neue Reden in weniger als einer Woche vor Beginn der Festspiele auswendig lernen müßten), hätten wir um Haaresbreite gar kein Stück mehr zum Aufführen gehabt. Aber Philonides setzte sich gegen alle Widrigkeiten durch, und gerade als ich alles hinschmeißen wollte, hielten wir eine letzte Probe ab, auf der buchstäblich alles klappte. Ich weiß noch, wie ich mich nach diesem Schlußdurchlauf auf dem Heimweg befand und geradewegs an meinem Haus vorbeilief, weil ich in Gedanken Solons Rede durchging und noch nicht fertig damit war, als ich die Tür erreichte.
    Schließlich kam der Zeitpunkt der offiziellen Voraufführung, zwei Tage vor Beginn der eigentlichen Festspiele. Damals führten wir das noch ein wenig anders durch: Die Dichter, Geldgeber, Chöre und Schauspieler gingen kostümiert, aber ohne Masken zum Odeion (meine Gefühle beim Wiedersehen mit diesem

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