Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer
gebraucht von jenen Leuten gekauft worden waren, die nach den Schlachten über die Felder ziehen und die Gefallenen ausplündern.
Schließlich wurden aus den versiegelten Kesseln, die man während der Prozession von der Akropolis heruntergetragen hatte, die Namen der Preisrichter für die Theaterstücke gezogen, und Sie können sich bestimmt vorstellen, wie die Geldgeber der Theaterstücke bei der Namensverkündung in gespannter Erwartung dasaßen, weil sie hofften, die richtigen Leute bestochen zu haben.
Dann folgte eine Pause, während der stets alle aufstanden und nach draußen liefen, um noch mehr Würste oder Wein oder Äpfel oder Gegenstände zum Werfen zu kaufen. Draußen hatten sich zumeist Schlangen von zu spät gekommenen Ausländern gebildet, die Karten zu kaufen versuchten, während die athenischen Bürger, die gerade aus den entlegeneren Teilen Attikas eingetroffen waren, mit sarkastischen Bemerkungen an ihnen vorbei hineinschlenderten. Hatte der Lärm von fünfzehntausend plappernden und schmatzenden Menschen seinen geradezu unerträglichen Höhepunkt erreicht, erschallte die Trompete, woraufhin jedesmal der wildeste Ansturm auf die Sitzplätze einsetzte, ähnlich den Fußsoldaten, deren Linie unter den von den Seiten und von hinten geführten Angriffen der Reiterei auseinanderbricht. Nun konnte man das wenig erbauliche Schauspiel verfolgen, wie praktisch jeder einzelne Bürger unserer großen Demokratie seinen Sitznachbarn beschuldigte, ihm den Platz oder das Kissen weggenommen zu haben oder auf seinem Hut zu sitzen oder ihm die Sicht auf die Bühne zu versperren. Mitten in dieses Durcheinander hinein fuhr das laute Pfeifen der Flöten, und sobald der erste Schauspieler der Festspiele die Bühne betrat, um seinen Prolog zu sprechen, wurden sofort sämtliche Gegenbeschuldigungen eingestellt. Diese Stille dauerte im allgemeinen nur gerade so lange, daß sich der Schauspieler vorstellen und den Schauplatz des Stücks bekanntgeben konnte; denn kaum hatten die Zuschauer begriffen, daß es sich wieder einmal nur um eine Variation der Rückkehr des Orestes handelte, setzten sie den Streit mit ihren Sitznachbarn an der Stelle fort, an der sie ihn abgebrochen hatten. Ich glaube, das ist der Grund, warum Tragödien einen Prolog haben; eine andere Rechtfertigung kann ich dafür nicht finden.
So also sah zu meiner Zeit der Eröffnungstag der Großen Dionysien aus. Jetzt werden Sie mir vorhalten, daß er heute noch genauso aussehe und ich mit meiner Schilderung nur Ihre Zeit vergeudet hätte, und ob das nicht ganz einem senilen alten Mann entspräche. Doch ich muß Sie bitten, darüber noch einmal nachzudenken. Läuft in der heutigen Zeit nicht alles sehr viel ruhiger und bewußt literarischer ab? Vergessen Sie nicht, wir haben diese großen Tragödien – die Sie heute genauso wie Homer schätzen, weil man Ihnen in Ihrer Jugend gesagt hat, sie seien gut – damals zum erstenmal gesehen und wußten noch nicht, daß sie gut sein würden, als wir unsere Plätze im Theater einnahmen. Bedenken Sie aber auch, daß die meisten nichts taugten; die guten sind diejenigen, die Sie gelesen haben. Außerdem machen sich heutzutage viele Menschen nicht einmal mehr die Mühe, die Festspiele zu besuchen. Damals hingegen handelte es sich wirklich um die einzige Zeit des Jahres, zu der alle Bewohner Attikas, denen es nur irgendwie gelungen war, drei oder vier Tage zu erübrigen, an einem Ort zusammenkamen. Sie alle waren fest davon überzeugt, absolut jedes Wort zu verstehen und in ihrem Urteil genauso treffsicher wie der Nebenmann zu sein, denn schließlich herrschte in Athen Demokratie. Das ist mittlerweile sicherlich ganz anders; zwar gibt es heute Leute, die etwas von dramatischer Dichtung verstehen, und einige von denen wissen sogar, was ihnen gefällt, aber viele behaupten auch, Theaterstücke überhaupt nicht zu mögen, und halten sie schlichtweg für langweilig.
Ich weiß, was Sie jetzt denken, und Sie haben recht: Ich klinge allmählich wie ein alter Mann. Ich glaube, daran ist das Schreiben an diesem Buch schuld. Bevor ich mit diesem nutzlosen Unterfangen begann, hatte ich nicht viele Gedanken an die alten Zeiten verschwendet – ich gehöre nicht zu jenen Menschen, die sich ständig mit der Vergangenheit befassen –, und bis zu einem gewissen Grad habe ich die meiste Zeit über laut nachgedacht, während mir Dinge in den Sinn gekommen sind, die ich mir nie zuvor klargemacht hatte. Was die Wahrnehmung zeitlicher
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