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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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nachts schlecht zu träumen. Jetzt hingegen schien niemandem mehr an irgendeiner Form von Betätigung gelegen zu sein. Im Hafenwasser dümpelten die Leichen unserer Männer auf und ab, aber keiner hatte Lust, mit einem Boot hinauszufahren und sie aufzufischen. Über Nikias oder Demosthenes beschwerte sich niemand. Die Verwundeten waren sich selbst überlassen, und viele von ihnen starben – habe ich erwähnt, daß in unserem Lager Fieber ausgebrochen war? –, und Träume hatte überhaupt keiner mehr, nicht einmal von zu Hause. Ich versuchte, allen klarzumachen, das sei eigentlich etwas ganz Natürliches, weil sie jetzt ebenfalls alle tot seien. Aber die allgemeine Teilnahmslosigkeit war so groß, daß niemand mehr Lust zum Streiten hatte; und wenn Athener ein Streitgespräch ausschlagen, dann kann man sicher sein, daß irgend etwas nicht stimmt.
    Etwa einen Tag später nahm ich gerade in stiller Zurückgezogenheit meine Mahlzeit (zehn Kyathos Gerstengrütze und vier Oliven) ein, als jemand, wild mit den Armen fuchtelnd und lauthals schreiend, in die Mitte des Lagers stürmte. Mehrere Leute baten ihn freundlich, mit dem Lärm aufzuhören, weil sie schlafen wollten, doch das schien ihn nur noch mehr anzuspornen. Schließlich kam jemand auf die Idee, ihn zu fragen, was eigentlich los sei, und er antwortete außer Atem, daß die Syrakuser die Hafeneinfahrt blockiert hätten.
    Es verging etwa eine halbe Minute, bis man die Bedeutung dieser Nachricht begriffen hatte. Dann brach die ungewöhnlichste Panik aus, die ich je mit eigenen Augen erleben durfte. Vermutlich haben Sie schon einmal gesehen, was mit einem Ameisenhaufen passiert, wenn die Hausfrau kochendes Wasser darüberschüttet. Das ist jedenfalls der treffendste Vergleich, der mir zu dem Treiben einfällt, das nun im athenischen Lager einsetzte. Ich war von dem Anblick völlig gefangengenommen und schloß daraus, wie ich mich erinnere, alle Toten seien plötzlich wieder ins Leben zurückgerufen worden – was ich allerdings für ziemlich sinnlos hielt, weil sie schon bald alle wieder hätten sterben müssen, falls die Syrakuser den Hafen wirklich blockiert hätten. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich selbst überhaupt nicht in Panik geraten. Ich saß einfach nur da und dachte darüber nach, welch gute Chorszene das ergeben würde – genau wie die Szene im Agamemnon, in der der Chor plötzlich seine einheitliche Stimme verliert und in eine Gruppe wild durcheinanderredender Individuen zerfällt. In einer Komödie hatte so etwas noch niemand gemacht; die Einstudierung wäre natürlich die Hölle auf Erden, aber die Wirkung um so umwerfender. Dann fiel mir ein, daß ich überhaupt nicht nach Athen zurückkehren und es keine Theaterstücke mehr geben würde, falls es den Syrakusern wirklich gelungen sein sollte, den Hafen abzuriegeln.
    Der einzige Mensch, der außer mir offenbar nicht in panische Angst verfiel, war ein kugelrunder kleiner Mann, der an einem Feuer saß und gerade eine äußerst dünne Wurst verzehrte. Seine Gelassenheit und die Wurst zogen mich magisch an, und ich begab mich zu ihm ans Feuer und setzte mich neben ihn auf meinen Helm. Er würdigte mich nur eines kurzen Blicks und widmete sich dann wieder seiner Mahlzeit, und eine Zeitlang sprach keiner von uns beiden ein Wort.
    »Du scheinst dir ja keine großen Sorgen zu machen«, sagte ich schließlich.
    »Nein, mache ich mir nicht«, erwiderte er mit vollem Mund.
    »Alle anderen tun es aber.«
    »Du doch auch nicht.«
    »Ja, aber ich bin tot.«
    »Na also, siehst du? Dann haben deine Sorgen ja ein Ende.«
    Er klang wie einer aus dem Hügelland, und ich fragte ihn, wo er wohne.
    »Hier«, antwortete er.
    »Nein, ich meine, wo du vorher gelebt hast«, berichtigte ich mich.
    »Daran kann ich mich nicht erinnern«, entgegnete er. »Ich bin schon eine Ewigkeit hier« – er hielt kurz inne, um einen Knorpel hinunterzuschlucken –, »zu lange, als daß ich mich daran entsinnen kann.«
    »Wie lange bist du denn schon hier in Sizilien?«
    »Schon sehr lange.«
    »Schmeckt gut die Wurst, wie?«
    »Mit einem Tupfer Honig wäre sie noch besser. Hast du ein bißchen Honig?«
    »Nein.«
    Er hatte sehr kräftige Hände und Unterarme, und ich vermutete, daß er einst Schmied gewesen war. Er hatte diese Art an sich, mit jemandem zu reden, ohne ihn dabei anzusehen, die für diesen Berufsstand typisch ist.
    »Du machst dir also wirklich keine Sorgen?« fragte ich erneut.
    »Nein.«
    »Wieso nicht?«
    »Weil

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