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Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer

Titel: Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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eigenen), beschloß ich, zum erstenmal in meinem Leben mein Glück als Tragödiendichter zu versuchen. Wie Sie wissen, kann ich aus dem Stegreif Verse machen, und außerdem sind die der Tragödienparodie einfacher als Komödienverse, falls man in diesem Zusammenhang überhaupt von einfach sprechen kann; gerät man jedenfalls in Schwierigkeiten, verfällt man einfach ins Wehklagen oder ruft die Götter an oder sagt, zu sterben sei zwar gut, aber gar nicht erst geboren worden zu sein, übertreffe alles. Solche Gedanken kommen einem für gewöhnlich erst bei der Arbeit an gebrauchsfertigen Stücken, und während man sie über die Lippen bringt, brütet der Kopf schon die nächsten Zeilen aus.
    »Um welches Stück handelt es sich denn dabei?« wollte der Schmied wissen.
    »Thersites«, antwortete ich. »Es wird euch gefallen, das Stück ist wirklich etwas ganz Besonderes.«
    »Nie davon gehört«, meldete sich der Glatzkopf zu Wort. »Wann ist das denn aufgeführt worden?«
    »Erst auf der letzten Lenaia«, log ich verzweifelt. »Das ist wohl auch der Grund dafür. Jedenfalls ist es das Beste, was er je gemacht hat.«
    Aristophanes starrte mich entsetzt an, doch ich wich seinem Blick aus und versuchte, mir ein paar passende euripideische Gemeinplätze einfallen zu lassen. Mittlerweile war die Schmiede voller Menschen, und noch immer eilten auf der Straße welche herbei. Als nach meinem Dafürhalten kein Platz mehr für weitere Zuschauer war, bat ich mit einem Zeichen um Ruhe und stand auf.
    »Werte Frauen und Männer, ich möchte euch jetzt den…«, setzte ich an.
    »Sprich gefälligst etwas lauter, ja?« schrie jemand von hinten.
    »Werte Frauen und Männer«, brüllte ich, »ich möchte euch jetzt den Wortstreit zwischen Odysseus und Thersites aus Euripides’ neuestem Stück Thersites darbieten, wie es vor kurzem im Dionysostheater in Athen aufgeführt wurde.«
    Ich holte tief Luft und stürzte mich kopfüber hinein. Mir war auf grausige Weise bewußt, daß ich um mein Leben dichtete (über die Steinbrüche von Syrakus hatte ich viele Gerüchte gehört, und ich hatte keine Lust herauszufinden, ob sie der Wahrheit entsprachen oder nicht), und mir wurde schnell klar, daß ich keineswegs die Fähigkeit besaß, den berühmten Euripides zu verkörpern. Um ein wenig göttlichen Beistand zu erhalten, den ich dringend zu benötigen glaubte, begann ich mit einer eindringlichen Anrufung des Gottes Dionysos durch Odysseus. Das war schwierig, denn in der Komödie hat man sich Dionysos gegenüber unverschämt zu verhalten, aber in der Tragödie muß man mit sämtlichen Göttern furchtbar nachsichtig und höflich umgehen. Darüber hinaus mußte ich mich davor hüten, geistesabwesend in eine Tragödienparodie zu geraten. Selbst eine Komödienzäsur oder ein unangebrachter Spondeus (ein aus zwei Längen bestehender Versfuß, den man niemals in eine Tragödienzeile hineinbekommt) hätte mich verraten; doch waren mir diese Strophenformen derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß ich sie normalerweise anwende, ohne groß darüber nachzudenken.
    Ich traute mich nicht, ins Publikum zu blicken. Falls ich durchfallen sollte, wollte ich erst dann etwas davon bemerken, wenn mir der Schmied Fußfesseln um die Knöchel legte. Ich machte einfach unbarmherzig weiter und versuchte, die Verse ebenso gut zu spielen wie vorzutragen (schließlich mußte ich das fiktive Werk eines anderen Dichters aufführen), indem ich ständig mit den Augen rollte und dauernd den Kopf bewegte, wie es die richtigen Schmierenkomödianten im Theater tun. Ich nahm an, daß das den Sizilianern gefallen werde.
    Das Thema meines Wortstreits war Barmherzigkeit gegen Zweckdienlichkeit. Odysseus will eine Gruppe trojanischer Gefangener töten, um den Trojanern Angst einzujagen. Thersites erhebt dagegen Einwände; taktisch und politisch sei es möglicherweise keine schlechte Idee, seine Mitmenschen in Stücke zu zerhacken, doch erfreue man damit nicht gerade die Götter. Demgegenüber sei Barmherzigkeit bestimmt sehr viel zweckdienlicher, da die Götter unsere Angelegenheiten regeln und den Missetäter ganz schnell bestrafen würden. Woraufhin Odysseus entgegnet, daß sich die Trojaner durch den Raub Helenas selbst zu den Feinden der Götter gemacht hätten und man deshalb durch das Aufschlitzen von ein paar Trojanern die Götter ganz bestimmt nicht beleidigen werde. An diesem Punkt fängt Thersites wieder mit dem alten euripideischen Unsinn an, daß Helena gar nicht

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