Walled Orchard 02: Der Garten hinter der Mauer
Sizilianer unter die Augen gekommen. Genaugenommen war das gänzliche Fehlen von Menschen sehr ungewöhnlich, und ich konnte mir zunächst auch keinen Grund dafür vorstellen, bis wir plötzlich eine Erklärung dafür bekamen.
Wir waren noch nicht weit am Flußufer entlanggegangen, als wir eine Gruppe Menschen auf uns zukommen sahen. Sie hatten uns bereits entdeckt, und deshalb war es sinnlos, nach einem Versteck zu suchen. Als wir uns ihnen weiter genähert hatten, sahen wir, daß es sich um einen Mann mit sämtlichen Familienangehörigen handelte, die ihre besten Kleidungsstücke trugen und mit Blumengewinden geschmückte Körbe in den Händen hielten.
»Die gehen bestimmt auf ein Fest«, folgerte Aristophanes mit beispielloser Auffassungsgabe.
Während wir näher kamen, winkte uns die Familie fröhlich zu, die aus dem Mann, seiner Gattin, zwei alten Frauen und drei kleinen Kindern bestand. Aristophanes blickte mich ratsuchend an und fragte mich: »Was machen wir jetzt?«
»So wenig wie möglich«, antwortete ich. »Und vor allem hältst du von nun an den Mund.«
Inzwischen befanden sie sich in Rufweite, also rief ich ihnen etwas zu.
»Kommt bloß nicht näher!« rief ich. »Pest. Wir haben die Pest.«
»Was für eine Pest?« fragte der Mann.
Das brachte mich für einen Moment aus dem Konzept, aber ich hatte keine Lust, mir irgend etwas Schlaues auszudenken. »Macht, daß ihr wegkommt!« schrie ich so laut, wie ich konnte. »Verschwindet, sonst seid ihr alle tot!«
Die Sizilianer starrten mich an, rührten sich aber nicht. »Wo kommt ihr her?« fragten sie.
Ich überlegte mir schnell etwas und antwortete dann: »Aus Leontini.«
»In Leontini herrscht die Pest?« rief der Mann. »Seit wann denn?«
»Es ist die athenische Pest!« rief ich zurück. »Die Athener haben sie vor etwa einem Tag dort eingeschleppt, die sind aus dem Krieg geflohen oder so. Die ganze Stadt gleicht einem Schlachthaus. Egal, was ihr macht, kommt bloß nicht in die Nähe von Leontini!«
»Aber das Fest!« sagte der Mann. »Wir wollen doch auf das Fest gehen.«
Ich schüttelte heftig den Kopf und rief: »Haltet euch von der Stadt fern. Geht nach Hause und laßt niemanden in eure Nähe. Es ist die athenische Pest.«
Der Mann schüttelte verdutzt den Kopf. »Wo geht ihr hin?« fragte er.
»Zum Meer«, antwortete ich.
»Warum?«
»Warum nicht?«
»Bitte?«
»Ich sagte, warum nicht?«
»Ach so.« Der Mann betrachtete seine Familie. Eine der alten Frauen redete schnatternd auf ihn ein, und alle Kinder weinten. »Also, vielen Dank!« rief er. »Braucht ihr was zu essen?«
»Ja«, erwiderte ich. »Jede Menge!«
»In diesem Korb ist Brot«, sagte er, wobei er auf den Korb deutete, den er in der anderen Hand hielt. »Ich lasse ihn für euch da.«
»Danke!« brüllte ich – inzwischen war ich fast heiser. »Bitte, verschwindet, bevor ihr euch auch die Pest holt! Die ist sehr ansteckend.«
Der Mann setzte den Korb ab und rannte davon, gefolgt von seiner Familie. Als sie außer Sichtweite waren, fielen wir über den Korb her. Er enthielt fünf frisch fürs Fest gebackene Laibe Weizenbrot und zwei Honigkuchen – und zwar wunderbar gebackene Honigkuchen, wie ich mich noch gut erinnere.
»Ich frage mich, zu wessen Ehren das Fest veranstaltet wird«, nuschelte Aristophanes mit vollem Mund.
»Keine Ahnung«, entgegnete ich schmatzend. »Ich nehme an, für Demeter oder Athena. Für Dionysos veranstaltet man zu dieser Jahreszeit gewöhnlich kein Fest.«
»Na ja, egal, um wen es geht, wir haben jedenfalls mal wieder Glück gehabt. Ich war schon halb am Verhungern.«
»Ach? Wirklich? Das wundert mich aber.« Ich leckte mir die letzten Tropfen Honig von den Fingern. »Schön, dann wollen wir mal weiter, was?«
Kurz darauf kamen wir zu einem Bauernhaus, das bis auf einen schlafenden Hund vollkommen verlassen war – alle waren auf dem Fest. Nachdem wir uns vergewissert hatten, daß niemand in der Nähe war, traten wir eine Tür ein und gingen hinein.
Über den alten Alkmaion, den Stammvater des berühmten Geschlechts der Alkmaioniden von Athen, gibt es eine Geschichte, nach der er den Reichtum der Familie begründete, indem er dem berühmten Kroisos, König von Lydien, dem reichsten Mann, der je gelebt hat, einen Gefallen tat. Seine Belohnung bestand darin, daß er in die Schatzkammer des Königs gehen und so viel Gold mitnehmen durfte, wie er tragen konnte. Als Alkmaion nun die Schatzkammer betrat, gingen ihm die Augen über; überall
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