Wallentin, Jan
Bein
abzustützen, erblickte sie eine riesige Schotterfläche, die in einem weit
verzweigten unregelmäßigen Muster von Eisenbahnschienen durchzogen war. In
einer Entfernung von ungefähr hundert Metern konnte man die langen Reihen von
Waggons erkennen, während sich eine einsame Lok langsam durch die Regenschleier
vorwärtsbewegte. Über dem Rangierbahnhof lag ein grelles gelbliches Licht, und
oben von der Autobahn her hörte man das entfernte Rauschen eines Sattelschleppers.
Don
stellte den schweren Wasserkanister ab, um zu verschnaufen. Doch Hex flüsterte
ihm zu, dass sie keine Zeit zu verlieren hätten, und nachdem sie sich nach rechts
und links umgeblickt hatte, verschwand sie geduckt über das erste Gleis.
Den Arm um
Dons Schultern geklammert und den Blick nach unten gerichtet, um nicht zu
stolpern, humpelte Eva so schnell sie konnte über die Reihen der Bahnschwellen
aus Beton hinweg und versuchte dabei, den Wasserpfützen auszuweichen, die sich
im Schotter gebildet hatten. Als sie hin und wieder aufblickte, sah sie, wie
Hex den Kanister an ihrer Seite vor und zurückpendelte, um den Schwung
auszunutzen. Der schwankende Schatten der Schwester bewegte sich geschickt über
die Schienenstränge.
Die
Waggons der ersten Reihe besaßen offene Ladeflächen, auf denen Metallrohre zu
glänzenden Pyramiden gestapelt lagen. Hex steuerte auf das Waggonende zu, wo
sie im Schatten der überstehenden Zylinder stehen blieb.
Als sie
die Schwester erreichten, unternahm Don erneut einen Versuch, seinen Kanister
abzustellen, doch Hex stieß ihn an und wies mit dem Finger auf die Fläche vor
ihnen.
Zwei
Gleise entfernt stand im gelblichen Schein ein einsamer Güterwaggon. Seine
Wände waren leuchtend grün gestrichen, und über das Grün verlief in schwarzer
Schrift:
Green
cargo
Durch die
beiden äußersten Buchstaben im Namen des Unternehmens verliefen Linien, die
die seitlichen Begrenzungen einer Tür darstellten.
Sie kamen
sich winzig vor, als sie sich dem massiven Waggon näherten, dessen
Metallfassade sich über eine Länge von dreißig Metern erstreckte und eine
Dachhöhe von vier Metern besaß. Hex ging vorneweg, eine schmächtige Gestalt in
Regenjacke mit Kapuze über dem Kopf. Ihr folgte Eva in einem gesprenkelten
zweiteiligen Kostüm, das eine Bein auf dem Schotter nach sich ziehend. Sie
hatte immer noch den Arm über Dons Schultern gelegt und konnte hören, wie er
eine lange Aneinanderreihung jiddischer Ausdrücke von sich gab, mittels derer
er offensichtlich über das Gewicht seines Wasserkanisters fluchte.
Als sie
anhielten, lockerte Eva ihren Griff um Don und schaute zu der Aufschrift
oberhalb der massiven Radachse des Güterwaggons hinauf:
21 RIV 74 GC 226 2 098-9
Hex nahm
einen schweren Schraubenschlüssel aus ihrer Jackentasche. Steckte ihn in das
Schloss der Schiebetür, und als sie ihn umdrehte, hörte man ein zweifaches
Knacken. Dann ergriff sie mit beiden Händen die untere Kante der Tür und zog
daran, so dass sie zur Seite auf glitt.
»Wo sollen
wir denn hier Platz haben?«, hörte Eva sich selbst fragen.
In der
Öffnung erhob sich eine kompakte Wand aus dunkelbraunen Masonitkisten. Sie
waren vom Boden bis hinauf zur Decke übereinandergestapelt und sahen aus, als
füllten sie den gesamten Waggon aus. An den Seiten der Kisten leuchteten im
Licht des Rangierbahnhofs Metallbeschläge auf, und es schien, als würde man
allein schon die obere Kiste nur mit Hilfe eines Gabelstaplers anheben können.
Eva
versuchte Dons Blick in Erwartung einer Antwort zu erhaschen, doch er war
bereits auf dem Weg zu Hex, um ihr auf den schmalen Streifen vor den Kisten
hinaufzuhelfen.
Es klang,
als öffnete sie verschiedene Schlösser, und einen Augenblick später war es ihr
gelungen, die mittleren Fassaden der Kisten zur Seite zu bewegen. Hinter der
geheimen Wand tat sich jetzt ein rabenschwarzer Korridor auf, der nur etwa
zwanzig Zentimeter breit war.
Hex drehte
sich um und ging in die Hocke: »Nun macht schon, beeilt euch!«
Eva
ergriff zögernd die ausgestreckte Hand der Schwester, und mit Dons
Unterstützung gelang es ihr, auf die Kante des Waggons hochzuklettern. Hex
zeigte ihr, wie sie sich seitwärts bewegen musste, um sich zwischen den Kisten
hindurch in den Korridor zu zwängen. Als sie tastend begann, sich in die
Öffnung hineinzumanövrieren, stieß sie mit den Rippen gegen die Wände der
engen Passage. Einen kurzen Augenblick leuchtete ihr noch das Licht von
draußen, doch
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