Wallentin, Jan
aus Gummi
hoch. Im selben Augenblick wurde der Waggon von einem schweren Stoß
erschüttert, der sich durchs Abteil fortpflanzte und das gefrostete Glas der
Tür vibrieren ließ.
Don
schaute auf die Uhr.
»Die
Rangierlok«, sagte er.
Von
draußen hörte man das Rasseln von Ketten sowie Stimmen und Schritte von
Menschen, die sich um den Waggon herumbewegten. Jemand rief etwas, ein
schriller Pfiff ertönte, und dann erfolgte ein weiterer schwerer Ruck. Danach
wurde es still. »Sie müssen jetzt schlafen«, befand Eva.
Sie
rutschte im Bett nach hinten, und er schaffte kaum die letzten Schritte, um
sich neben sie zu legen, das Gesicht zum Raum gewandt.
Das
Abteilfenster erzitterte erneut, als der Waggon auf dem Gleis ein paar Meter
nach hinten geschoben wurde. Dort standen sie einige Minuten still, bevor die
Rangierlok sie endlich zu ziehen begann. Eva konnte die Schläge der Fugen
zwischen den Schienen hören, ein rhythmisches Hämmern, das durchs Bett hindurchdrang.
Sie war kurz davor einzuschlafen, als sie ihren Mund zu einem letzten Flüstern
formte:
»Sie sagte
auf jeden Fall etwas Jüdisches, bevor sie ging. Hex, meine ich. Und denjenigen,
der die U-Bahn in Kymlinge fehlleitete, hat sie glaube ich shmok genannt.«
»Dann besteht
ja noch Hoffnung«, murmelte Don.
Eva
wusste, dass sie besser still sein sollte, aber sie musste dennoch fragen:
»Warum hat
sie den Waggon Silberpfeil genannt?«
Don drehte
sich zu ihr um und schaltete die orangefarbene Lampe aus. Dann tastete er mit
den Fingern in der Schublade, in der sie den Bettwärmer gefunden hatte, und
fischte eine Decke heraus, die er über sie und sich selbst ausbreitete. Legte
den Kopf ab und starrte in die Dunkelheit, während er versuchte einen Rhythmus
in den Erschütterungen des Waggons zu erkennen, der sich in der Dämmerung über
die Schienen fortbewegte.
»Don?«
Der
Güterwaggon hielt auf einem Nebengleis, während ein anderer Zug vorbeiraste,
und die Wände von seinem hinwegrauschenden Donnern erschüttert wurden.
»Don?«,
fragte Eva erneut.
»Dieses
alte Gerücht«, sagte er mit verwaschener Stimme. »Welches alte Gerücht?«,
fragte sie.
Mit einem
Seufzer drehte er sich um und versuchte die Umrisse ihres Gesichts zu
erkennen. Dann begann er mit flüsternder Stimme vom Todeszug zu erzählen, der
tief unten auf den Gleisen der Stockholmer U-Bahn umherirrt. »Aus seinen
Scheiben blicken Leichen zu den Lebenden hinaus, wenn sich die Türen der
silbrigen Wagen am Bahnsteig öffnen. Und derjenige, der sich traut einzusteigen
...«
Die Worte
kamen zwischen ausgedehnten Pausen aus seinem Mund.
»Der
Silberpfeil, der Fliegende Holländer der Unterwelt, hat lediglich einen
Ausstieg in Kymlinge, der Station eigens für die Toten.«
Als er
verstummte, hörte er an Evas Atmung, dass sie eingeschlafen war. Und als der
Güterwaggon von Västberga gegen sechs Uhr in Richtung Süden rangiert wurde,
wagte auch Don zum ersten Mal nach zwei Tagen und Nächten sich zu entspannen.
Er hörte
das Rauschen der langsam erwachenden Stadt, die sie nun hinter sich ließen.
Drinnen im Abteil herrschte eine Dunkelheit, die Geborgenheit vermittelte,
während die schweren Räder rhythmisch gegen die Fugen zwischen den Schienen
schlugen.
Er spürte,
wie Eva nach seinem Arm tastete und ihn um sich legte. Er rutschte näher an sie
heran und begann sachte in den Schlaf zu sinken.
II
Ypern
Es gab
weitreichende Pläne, die Stadt so zu belassen, wie sie war, nämlich dem
Erdboden gleichgemacht, als Erinnerung an die Macht der Waffen der modernen
Zeit. Doch praktisch gesehen war es unmöglich, da die Menschen, die vor dem
Krieg in Ypern gelebt hatten, forderten, nach Hause zurückzukehren. Und obwohl
man ihnen sagte, dass es nichts gab, wohin sie zurückkehren konnten, weigerten
sie sich, dies zu akzeptieren.
Im Herbst
1918 gaben die Behörden auf, und man begann, auf den mit Kriegsschrott
gefüllten Gräben, die einmal eine Stadt gewesen waren, improvisierte Lager zu
errichten. Auf dem zentralen Platz Grote Markt waren zu diesem Zeitpunkt nur
zwei verrußte Ruinen übriggeblieben: die Reste eines Säulengangs, der darauf
hinwies, wo die Kathedrale gestanden hatte, und der zerstörte Beifried der
mittelalterlichen Tüchhallen. Es war, als hätte jemand Ypern mit einer
gewaltigen Planierraupe entsprechend der flachen belgischen Landschaft ein für
alle Mal eingeebnet.
Den Grund
für die wiederholte Heimsuchung der Stadt bildete letztlich ihre
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