Wallentin, Jan
sterbliche Überreste man nie
gefunden hatte, wurde ein gewölbter Triumphbogen, das Menenpoort errichtet. 55
000 Namen ritzte man in dessen steinerne Oberfläche. Die übrigen 500 000
Gefallenen wurden in den Hunderten von Gräberfeldern begraben, die sich
außerhalb der Stadtmauern ausbreiten. Dort ruhen sie unter weißen Kreuzen in
kilometerlangen gerade ausgerichteten Reihen.
Die
Kathedrale Saint Martin wurde anhand von Fotografien wieder aufgebaut, die
noch aus der Zeit vor dem Krieg stammten, doch den Türm errichtete man im
gotischen Stil. Bald ragte sie mit ihrer trotzigen Spitze wieder hoch über den
Kaufmannshäusern am Grote Markt in den Himmel, aus dem einmal die Brandbomben
abgeworfen worden waren.
Oben von
der Turmspitze Saint Martins aus konnte man nun ein weißliches Licht erahnen,
das sich langsam auf die südliche Stadtgrenze von Ypern zubewegte. Dort lag
der Güterbahnhof wie ein gelbes Rechteck ausgebreitet. Unten in der lebhaften
Rijselsestraat hatte die letzte Bar bereits geschlossen, und in der stillen
Nacht war das Pfeifen des Zuges deutlich zu hören, auch wenn er noch einige
Meilen entfernt war.
Im Salon
des Güterwaggons rumpelte und klapperte es, während Don den Plan der belgischen
Eisenbahngesellschaft auf dem Tisch zwischen den Sesseln auseinanderfaltete. Er
steckte in der Aktenmappe, die Hex ihnen mitgegeben hatte, und war eine Art
Übersichtsplan des Güterbahnhofs. Die Schwester hatte Gleis Nummer sieben
eingekreist und eine Bleistiftnotiz mit der berechneten Ankunftszeit
danebengeschrieben.
Gemeinsam
mit Eva versuchte Don zu schätzen, wie weit es von Gleis sieben bis zum Ausgang
des Bahnhofs war, und sie kamen auf eine Entfernung von ungefähr
einhundertfünfzig Metern.
Die
Rechtsanwältin versicherte ihm, dass sie die kurze Strecke ohne Unterstützung
würde laufen können, doch erst, als er ihre Wade untersucht hatte, begriff Don,
dass sie sich nicht bloß als tapfer erweisen wollte. Denn dort, wo sich einmal
eine hässliche Schnittwunde befunden hatte, war inzwischen nur noch ein oberflächliches
Narbengewebe zurückgeblieben. Die Chirurgentapes hatte Eva bereits entfernt.
Don dachte, dass er die Tiefe der Wunde vielleicht überschätzt hatte und seine
medizinischen Kenntnisse veraltet waren. Dennoch erschien es ihm in gewisser
Weise verblüffend, wie schnell sie verheilt war.
Inzwischen
waren sie mehr als zwanzig Stunden im Waggon unterwegs. Don war wach, seitdem
sie Hässleholm passiert hatten. Da war es bereits Mittagszeit gewesen, und die
Sonne schien so intensiv, dass es im Abteil stickig wurde und muffig roch. Als
sie Heisingborg erreichten, hatte er es riskiert, die Schiebetür des Güterwaggons
aufzuschließen, um etwas frische Luft hereinzulassen. Den Meeresgeräuschen nach
zu urteilen, hatte man sie auf ein Abstellgleis unten im Hafen rangiert, und
als er hinausschaute, lag das grauschwarze Wasser ruhig hinter den Bahngleisen
am Ende des Kais da. Er hatte überlegt, ob er vielleicht rausgehen und sich ein
wenig die Beine vertreten sollte, doch dann rief Eva aus dem Dunkel des Wagens
nach ihm. Also ließ er die Schiebetür vor der Öffnung des Masonitkorridors
wieder zugleiten.
Sie hatten
ein einfaches Mittagessen zu sich genommen. Gemüsesuppe aus Hex'
Konservenvorrat, jeder ein Glas Weißwein, hartes Brot und salzige Kekse. Für
den Nachtisch hatte Eva eine Dose mit eingelegten Früchten aufgetan. Danach
schalteten sie den Laptop an.
Übers
Internet konnten sie die Suche der Polizei nach neuen Hinweisen verfolgen, und
Eva schickte die Mitteilung an die Rechtsanwaltskanzlei in Borlänge weg, um in
Erfahrung zu bringen, ob sie dort mit irgendwelcher Hilfe rechnen konnten. Doch
die Antwort stand noch aus.
Als sie
jetzt vor dem Plan im Salon saßen, begann der schwere Güterzug endlich zu
bremsen. Nachdem er angehalten hatte, warteten sie noch über eine Stunde in
ihren Sesseln, bis sich die letzten Stimmen außerhalb des Wagens entfernt
hatten. Um Viertel vor drei erklang eine entfernte Ansage aus einem
scheppernden Lautsprecher in einer Sprache, die wie eine Mischung aus Englisch
und Deutsch klang.
Sie
standen auf und zogen ihre schmuddeligen Jacken an. Don band die Senkel seiner
Stiefel mit einem Doppelknoten und bedeutete Eva mit einem Nicken, ihm durch
die enge Masonitpassage zu folgen.
An der
geheimen Wand angekommen, betätigte er vorsichtig die Entriegelungen. Dann
stand er einen kurzen Augenblick da und horchte, bis er schließlich
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