Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
ein bißchen viel jetzt, und, sich die Wangen abwischend, wohin mit dem Taschentuch?, Ana nimmt es, was denn jetzt mit dem Tata gewesen sei, was sie ihm da sagen wolle.
Ana sagt: „Na, eigentlich nichts. Er ist halt die ganze Zeit in Nigeria gewesen. Aber das hast du ja eh schon gewußt. Das ist halt für mich, für uns beide, sehr schwierig gewesen, wenn man sich nicht mehr so richtig sieht, er hat es halt etwas übertrieben, er nimmt ja alles immer so extrem ernst, du kennst das ja“, Ana als Wallner (Oberkörper aufrecht, geballte Faust beim Sprechen, den Takt schlagend): „Mankann-das-jetzt-nicht-einfach-so-hinnehmen“, sie hat kurz aufgelacht, aber dann sofort wieder den starren Gesichtsausdruck von vorhin bekommen, Costin hört zu weinen auf, sie hat ganz kurz zu ihm, dann wieder weggeschaut, ins Leere.
„Aber was er da im Kinderdorf erreicht hat, was er da geschafft hat, jede freie Minute war er da, ja letztlich . . ., wie sagt man da, Altruist?, also selbstlos, die haben sogar eine Straße nach ihm benannt, also er hat sich da wohl aufgerieben, in Port Harcourt, aber wir können – wir können“ (sie macht eine Pause) „schon, also, stolz auf den Tata sein.“
Jetzt sollte Costin eigentlich noch mal fragen, wie und wo der Tata eigentlich gestorben ist, ob in Nigeria oder Cham, wo er begraben ist, wie das war, die Beerdigung, aber wenn er sich Ana so ansieht, ist das alles jetzt zuviel für sie, sie hat ja, wie sie ihm das erzählt, selber Tränen in den Augen.
Costin gibt Ana einen Kuß auf den Scheitel.
12
Er erwacht von Stimmen, dreht sich zur Seite, zieht die Decke bis zum Ohr. Scheißhotelgäste. Sollten verdammt noch mal ruhiger sein, zumindest auf dem Flur, Rück -sicht? Hallo?! Hier wohnen noch andere Gäste?! Er tastet nach der Fernbedienung auf dem Nachttisch, auf dem etwas Weiches, Flauschiges sitzt. Er macht die Augen auf. Er hält einen großen Maikäfer in der Hand. Also keinen richtigen. Eine Stoffpuppe von einem Maikäfer, so groß wie ein Brotlaib. Costin richtet sich mit einem Ruck auf. Das Bett, in dem er liegt, ist hellblau angestrichen und hat dünne rote Streifen, auf dem Boden rundherum liegen Stapel, Stapel von Comics. OK. Stoffpuppe = Dinu Mai. Bett = sein, Costins, altes Kinderbett, das Christopher-Bett. Zimmer = sein altes Kinderzimmer, im Keller. Ort = Cham. Zeit = Montag morgen. Tata = tot. Das heißt aber auch: Hotelgäste = die potentiellen Käufer der Villa, von deren Besichtigungstermin Ana gestern sprach.
Costin setzt sich auf den Bettrand und wartet darauf, daß sich die Stimmen der potentiellen Käufer, ein Ehepaar, älter, und Ana entfernen, so daß er durch den Flur ins Bad gehen kann. Er möchte nicht gesehen werden. Vor allem nicht mit dieser MPL (= Morgendliche Prachtlatte), die sich merkwürdigerweise in den letzten Sekunden, als er erkannte, wo er ist, gebildet hatte. Mit einem alten, an sich abgelegten T-Shirt aus dem Kleiderschrank – er hatte in der Eile vergessen, sich im Hotel in Berlin eines einzupacken – und seiner Reisetasche unterm Arm ist er dann durch den Flur geeilt, hat sich zunächst in den Türrahmen von Anas Büro neben seinem Zimmer gedrückt, dann an der Wand vorsichtig um die Ecke gespäht, ist zum Bad gesprungen. In der Duschkabine hat er, ohne hinzusehen, mit einem Dreh, das Wasser in der Temperatur eingestellt, zu der er früher schon immer als Jugendlicher duschte, hat, automatisch, mit der anderen Hand nach dem Shampoo ganz oben auf der Leiste der Duschwand gelangt, wo es nicht gestanden hat, und schmiert sich dann statt dessen mit dem Duschgelsample ein, das in der Seifenschale lag, die sonst eigentlich immer – sonst eigentlich immer = zwischen Costins 18. und 21. Lebensjahr, das heißt zu der Zeit seines Zivildienstes und der ersten BWL-Semester in Regensburg – leer war. Es hat sich da rein zufällig ergeben, daß er, beim Waschen seines Schwanzes, zu onanieren anfing. Während er seine Vorhaut vor- und zurückzieht, dachte er dann auch nicht an einen zurückliegenden Geschlechtsverkehr, sondern daran, daß er wahrscheinlich für sehr lange Zeit das letzte Mal in Cham sein würde, daß er unbedingt schauen sollte, ob jemand von seinen alten Freunden in town wäre, also die nächsten drei, vier Tage – länger würde er diesen Psychostreß, Ana, das Haus, die ständigen Erinnerungen, sowieso nicht aushalten –, jetzt kommt er, wischt sich mit dem Duschstrahl sauber.
Vor dem Bad stand dann Ana, als hätte sie hier schon
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