Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
den Zeitschriften, auf der Bühne und so weiter kannte. Er hatte seitdem das Gefühl, er habe vor allen anderen in der Band einen besonderen Draht zu Melanie und, nachdem er ja diese Anfangsschwierigkeiten mit ihr gehabt und er ihr beim ersten Album noch gesagt hatte, daß ihm ihr Große-Schwester-Gehabe tierisch auf den Sack gehe, hatte das jetzt saugut getan, er war froh gewesen, daß sie da war, daß er eine Verbündete in diesem ganzen Zirkus hatte, die wußte, wie es ihm manchmal zumute war und was wirklich abging, seine große Schwester, die Melanie.
„Melanie?“ hat Costin in das Mikro an seinem Headset gefragt und ist über seine eigene Stimme ein bißchen erschrocken, die total brüchig und rauh klingt, OK, so wie man eben klingt, wenn man was getrunken, geraucht und bis jetzt geschlafen hat und zum ersten Mal am Tag was sagt. Er schaut auf das ausgeklappte Display seines Handys auf dem Nachttisch neben dem Bett. Yup. Das Gesicht, obwohl schlecht ausgeleuchtet, gehört Melanie. Er achtet darauf, daß er für die Kamera in seinem Handy nicht zu sehen ist, sondern lediglich die gegenüberliegende zart rosa gestrichene Wand. Sieht Melanie halt nur die zart rosa gestrichene Wand. Ist auf jeden Fall weniger peinlich, als wenn sie mitbekommt, in was für einem Zustand er sich befindet.
Melanie sagt: „Wie kommst du denn dazu, einfach so abzutauchen, keiner hat deine neue Handynummer, niemand weiß, wo du bist.“ (Melanie zu einem imaginären Gegenüber:) „Weißt du, wo der Costin steckt?“ (Melanie als imaginäres Gegenüber:) „Nee, den hab ich ja auch schon ewig versucht zu erreichen, aber von dem fehlt irgendwie jede Spur.“
Costin sagt: „Die lange Tour, die Sehnenscheidenentzündung, die Depressionen, der Streit mit Wylie, Jessica, die mich rausgeworfen hat . . .“
„Brian. Ich muß dir was sagen. Da ist was passiert.“
„Die Plattenfirma ist pleite. Die Band hat sich in meiner Abwesenheit für immer aufgelöst.“
„Brian.“
„Man hat dir gekündigt. Wylie ist nach Brooklyn gezogen.“
„Brian.“
„Seema hat einen Unfall gehabt. Nicki hat einen Unfall gehabt. Wylie hat einen Unfall gehabt.“
„Costin. Dein Vater ist gestorben.“
„Mein Vater ist gestorben.“
„Dein Vater ist gestorben.“
Die Bettdecke ist weiß. Der Teppich ist hellbraun. Über dem weiß lackierten Schreibtisch hängt der Spiegel. Die Wand ist zartrosa gestrichen.
„Brian?“
Melanies Gesicht auf dem Display des Handys, das er in die Hand genommen hat, ist ernst. Sie hat die Stirn in Falten und den Kopf zur Seite gelegt, als horche sie darauf, ob eine Antwort von ihm komme. Melanies Haare sind schwarz. Jetzt preßt sie die Lippen zusammen, sie hat einen mitleidigen Blick. Costin weiß, daß sie ihn jetzt, in diesem Moment, auf ihrem Display hat, wie er mit angezogenen Beinen auf dem Bett kauert, der Mund, durch den er versucht, langsam und regelmäßig zu atmen, sein Haar muß zerzaust sein.
11
Schon beim Aussteigen aus dem Taxi und dann während er mit geschulterter Reisetasche über das grüne Gatter springt, langsam die Einfahrt entlanggeht bis zur Villa, hat er diese Klezmer-Klarinetten-Musik von diesem Typen, Friedmann, Friemann, Freimann, leise und dann immer lauter, wie hochgefadet, im Ohr gehabt, also innerlich. Er klingelt. Ana öffnet ihm. Er tritt ein, stammelt irgendwas, umarmt Ana und fängt an zu weinen. Die Tür ist hinter ihm mit einem Klick ins Schloß gefallen. Während er jetzt „Das ist alles so furchtbar“ schluchzt, hat er, glaubt er, Speichelfäden zwischen den Lippen, jedenfalls spürt er so was. Ana hat ihn umarmt, aber sie hat noch gar nichts gesagt, weinen tut sie auch nicht, sie hält ihn nur.
Ana hat seit Tagen geweint, denkt Costin. Ana hat keine Tränen mehr. Sie hat das Tiergeschäft vorübergehend geschlossen. Ana schläft schlecht, jetzt auf einmal ganz allein im Ehebett. Nachts geht sie durchs Haus. Sie vermeidet es, Bilder Tatas anzusehen. Astrid und Uli helfen ihr. Sie hören zu, sie trösten, sie streicheln Ana über den Rücken. Ana sitzt viel auf dem schwarzen Sofa im Wohnzimmer. Manchmal sieht sie fern. Sie versucht sich, so gut es geht, abzulenken. Das gelingt nur selten. Es ist noch zu früh. Alles ist Schmerz. So wird es sein.
Aus der halboffenen Tür zum Eßzimmer ist ein Mann in den Flur getreten. Es ist Tata. Die Statur. Der dunkelblaue Anzug. Costin schaut in ein Gesicht, das nicht das von Tata ist, graublondes Haar, eher runde Backen.
Ana,
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