Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909
mächtig. Ich wüßte ihm nichts Modernes an die Seite zu setzen. Nicht einmal Göthe!«
»Sie haben recht,« sagte er, hocherfreut darüber, daß er ihr Innerstes getroffen. »Nur Göthe hat einen blassen Abglanz dieser griechischen Sonne in seiner Kunst, aber auch ihm fehlt die wuchtige Größe. Man merkt dieser griechischen Poesie an, daß sie von Menschen ausging, deren Brust nicht von staatlichen und gesellschaftlichen Zwangsjacken halb zerquetscht war. Sie kümmerten sich nicht so ängstlich wie wir um die Meinung oder Nachrede ihrer Mitmenschen; jede Leidenschaft durfte, kaum geboren, gleich mündig werden und leben. Der Mensch konnte noch bis ins Individuellste hinein originell sein. Ihr einziger Zügel war dabei das freie Gefühl für das Schöne! Natürlich, wo das Gefühl für das Schöne mangelhaft entwickelt ist, wie bei unserem modernen Geschlecht, da muß die staatliche Zuchtrute die Sitten tyrannisieren, der gesellschaftliche Drill vorschreiben was recht ist.«
»Ein schlechter Ersatz,« meinte sie, »für das freie Empfinden maßvoller Schönheit!«
»Freilich,« wendete hier Karl ein, dem das vorgelesene Gedicht alle Gluten der Eifersucht mächtig angeschürt hatte. »Ich wenigstens möchte lieber an einer schönen Leidenschaft zu Grund gehen, als in solchem Spießbürgerdasein zu hohen Ehren kommen . . .«
»Du übertreibst gleich wieder jugendlich,« tadelte der Direktor. »Aber ein bischen Wahrheit steckt allerdings in deinen Worten.«
»Was ist schuld daran,« fuhr Karl fort, »daß wir statt Leidenschaft nur noch Leiden, statt Liebe nur noch Verliebtheit haben, daß Jeder von uns den Staat – anstatt ihn zu lieben – nur als eine feindselige Macht empfindet, daß die Schönheit aus dem Leben geflohen und die Kunst ein armseliger Broderwerb geworden ist, – was ist daran schuld? Nur ein falsch verstandenes Christentum!«
Der Direktor vermied es als Staatsbeamter auf diese heikle Frage einzugehen. »Um wieder auf unser Gedicht zurückzukommen,« sagte er, »auf welch naiv-raffinirte Weise weiß Theokrit durch den abwechselnden Refrain die Phantasie des Hörers in ein mystisches Gebiet zu rücken!«
»Ja,« fuhr Emma fort, »man schaudert vor der unterdrückten Glut dieser verzehrenden Leidenschaft! und dann, – den Schluß! den bewundere ich besonders. Nach dieser leidenschaftlichen Beschwörung besteht die letzte Steigerung gerade in einer Abschwächung. Der Dichter fühlt: höher kann er nicht mehr steigen! Deshalb schließt er mit einer wunderbaren das Gemüt beruhigenden Naturbetrachtung; sie sagt dem Mond und den Sternen: Lebt wohl! – ›der schweigsamen Nacht am Wagen gesellte Begleiter‹.«
Dann las er noch den Klagegesang der Aphrodite an der Leiche des Adonis. Als er an die Stelle kam:
. . . Bleib o Adonis!
Bleib unselger Adonis, damit ich dich letztlich berühre,
Daß ich dich fester umschmieg und die Lippe verschmilzt mit der Lippe!
– waren ihm Tränen in die Augen getreten. Den trockenen Schulmann so begeistert zu sehen, erfüllte sie mit einer ernsthaften, tiefen Zuneigung, – sie ließ sich hinreißen und drückte ihm die Hand; sie dankte ihm tief ergriffen. Das sei freilich das Höchste, was man in der Lyrik leisten könne. Da sei Lyrik, Epik und Drama aufs Innigste verbunden, alle Sinne werden in Bewegung gesetzt, um dadurch einen hohen geistigen Eindruck zu erreichen.
Karl hatte diese Gefühlsausbrüche mit wechselndem Mißbehagen beobachtet. Nun versetzte er gereizt: »Was für ein Widerspruch! Man sucht uns griechische Schönheitsideale einzuprägen und steckt uns in das moderne Röhrensystem von Kleidern, wir lernen und lesen von Leidenschaften; dürfen aber diesen Gefühlen im Leben fast bei Todesstrafe nie nachgeben. Auf diese Art erzieht man Affen und Heuchler! Vielleicht wärs barmherziger, man verschlösse uns alle Poesie und erzöge uns nur mit dem Katechismus, dann wären wir wenigstens von einer glücklichen Einseitigkeit durchdrungen, die an das süße Hinträumen auf der Wiese ruhender Wiederkäuer erinnert.«
Der Direktor hatte diese Worte so aufgefaßt, als wäre der Sohn darüber erfreut, daß sein Vater Spuren so jugendlicher Phantasieüberschwenglichkeit an den Tag legte. »Nun,« meinte er lächelnd zu Emma hinübergebeugt, »wenn Ihr Roman nur einen Abglanz dieser Poesie erhält, dann bin ich schon zufrieden. Nehmen Sie die Gedichte Theokrits mit nach Hause und lesen Sie eifrig darin. – Ich bin übrigens begierig, wie Sie die
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