Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909
ihn Konrad. Auch seine übrigen Kameraden bestärkten ihn in seinem Widerstand.
Nun folgte eine Mathematikstunde. Karl hatte, so begabt er war, für Mathematik absolut kein Talent. Der dicke, kleine Herr Külper ging aber von der Ansicht aus, daß derjenige ein Esel sei, der seine Lehrsätze nicht begriff. Vom Wort Lichtenbergs, daß man ein großer Mathematiker und dabei ein sehr beschränkter Kopf sein könne, wußte er als Litteraturfeind nichts. Er behandelte daher alle die Schüler, die in der Mathematik nichts leisteten, mit tiefster Verachtung und schimpfte hochmütig auf alle anderen Lehrfächer, besonders die ästhetischen. »Wos?« rief er oft in seinem derben Dialekt. »Da lerne die Kerls Lieder auswendig: ›Saß ein Knabe an dem Bach‹. Unsinn! en Backstein holtet n hin und frogts: Was hat der für Dimensionen? – do derbei lernens mehr!« Seine Lieblingsredensart, wenn ein Schüler an der Tafel Fehler machte, war ein mit tiefstem Bierpathos herausgebrummtes: »Es ist das nächts!« Die Mathematikstunden waren Karls Verzweiflung; er atmete stets auf, wenn er nicht an die Tafel mußte; das Glockenzeichen am Schluß der Stunde klang ihm wie die Erlösung dem Verdammten.
Dann gab es Griechisch bei dem sehr zart besaiteten, herzleidenden Dr. Wilhelm Köhler. Diese Stunde war für Karl auch gerade kein Genuß. Karl meinte, es sei viel belehrender die Klassiker gleich vollständig in guten Übersetzungen zu lesen, als sich Jahre lang mit ein paar Zeilen aus dem Homer oder Sophokles herumzuplagen, wodurch die Schönheiten zu Langweiligkeiten, die Gedanken zu Regeln, die anschaulichen Bilder zu abgedroschenen Begriffen erniedrigt wurden. Dr. Köhler sagte ihm: »Das ist auch meine Meinung, aber nicht die des Oberschulrats. Ich kann das nicht ändern, ich muß mein vorgeschriebnes Pensum durcharbeiten.«
Derselbe Lehrer gab auch Deutsche Litteraturgeschichte. Hier durfte er seine Prinzipien schon eher zur Geltung bringen. Er würzte seinen Unterricht mit interessanten naturphilosophischen Andeutungen, die freilich nicht nach dem Geschmack des Theologen waren, durch die aber die jungen Leute Lehren der Weisheit und Tugend fürs ganze Leben in sich aufspeicherten. Dr. Köhler war ein großer Bienenzüchter. Jedes Jahr machte er sich den Spaß, einen großen Topf, voll der neuen süßen Honigernte, mit in die Prima zu bringen. Dann mußte sich jeder Schüler auf seine Rechnung eine Semmel kaufen und der Lehrer bestrich auf dem Katheder höchst eigenhändig jede Semmel mit seinem köstlichen, selbstgezogenen Honig. Durch solche an patriarchalische Zeiten erinnernde Züge wußte der seltsame Freigeist seine Zöglinge an sein Herz zu fesseln.
Den Schluß des Morgenunterrichts machte die französische Stunde beim Direktor. Körn wußte seinen Unterricht ganz interessant zu gestalten, nur spielte er zu sehr den Tyrannen und suchte zu sehr den Ehrgeiz seiner Schüler aufzustacheln. Seinen Sohn behandelte er weit strenger als die anderen Schüler. Heute war er ganz besonders schlechter Laune. Sein vernichtendes »Man hat wieder einmal nichts gelernt!« ertönte in allen Tonarten, vom tiefsten majestätischen Baß bis zum grimmigscharfen Diskant.
Der frühreife Karl schrieb am Schluß der Stunde in sein Tagebuch: »Es ist ein Unglück, daß so selten ein Erzieher es aus Lust und Liebe geworden ist. Meist treibt diese Herren die Aussicht auf Staatsversorgung in ihr Amt; im Stillen bleibt ihnen dann ein ewiger Groll im Herzen zurück, den sie an ihren Schülern auslassen. Wie wenig ›geborne Erzieher‹ haben wir doch!«
Kaum verkündete die Glocke den Schluß des Morgenunterrichts, so eilte Karl sofort in die R . . . . straße, wo die Schriftstellerin Emma Dorn in einem isoliert stehenden Gartenhinterhäuschen wohnte. Er wußte, daß er immer noch früh genug zum Mittagessen kommen werde, wenn er um ein Uhr zu Hause sei. Neben ihm her schritt sein Intimus Konrad Stern.
Karl machte seinem gepreßten Herzen durch weidliches Schimpfen auf das ganze Schulwesen Luft. Die Schulmappe krampfhaft an die Hüfte pressend, sprudelte er in seiner hysterischen Gereiztheit in seinem oft barocken Styl heraus: »Jetzt sieh dir nur mal das moderne Leben auf der Straße an! Dies Röhrensystem von Kleidern, das die verkümmerten, entarteten Gestalten noch gänzlich wie Leichen in Tuchsärge einpreßt. Und wo findest du heutzutag noch eine reine Haut? Tabak und Bier haben Wimmerl und Pickel in die Gesichter gesät. Wo findest du
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