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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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der andere Junge folgt ihm.
    Die Mädchen bleiben vor einem Schaufenster stehen, in dem eine Schaufensterpuppe ausdruckslos Sexspielzeug in den Gipshänden
hält. An einem Handgelenk baumeln Handschellen, von den Hüften hängen die Träger von Strapsen. Zu ihren Füßen liegen die Hüllen von Videokassetten, auf denen Frauen zu sehen sind, die ihre Münder verziehen, als wären sie beleidigt, aber nur ein bisschen. Andere haben einen Blick wie Klaras Katze, kurz bevor sie sich auf dem Boden wälzt. Paul kann die Titel auf den Hüllen nicht lesen, denn er traut sich nicht näher an das Schaufenster heran. Dort stehen die Mädchen, flüstern sich Sachen ins Ohr und drücken dann auf eine Klingel neben der Ladentür. Als sie einen Schlüssel im Schloss hören, rennen sie los. Paul wundert sich, dass die Tür keine Klinke hat, als ein Typ mit Muskelpaketen an den Armen mit einem Satz auf die Straße springt, sich Paul greift, ihn an den Ohren zu sich hochzieht, dass sich Paul mächtig ins Zeug legen muss, um den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren, und ihm ins Ohr schreit: »Noch einmal, Freundchen, und ich lass dich von unserem bösesten Kunden durchficken, bis du nie mehr sitzen kannst.« Paul starrt auf den breiten Brustkorb, auf dem in weißen Buchstaben »Rent me, baby« steht. Auf der anderen Straßenseite kichern die Mädchen, und auch die beiden Jungs haben sich inzwischen wieder zu ihnen gesellt und zeigen mit dem Finger auf ihn. Der größere kringelt sich sogar vor Lachen. Ist das nicht der Obermensch? Hatte er ihn verfolgt? Der Muskelmann lässt sein Ohr wieder los und schreit über die Straße: »Ich kriege euch alle, ihr Fotzen.« Dann dreht er sich um und knallt die Tür hinter sich zu.
    Der Schmerz ist zu groß, als dass Paul noch wüsste, ob da noch ein Ohr ist oder nicht. Am liebsten würde er weinen, aber nicht vor den Mädchen auf der anderen Seite. Als der große Supermarkt neben dem Bahndamm auftaucht, klemmt er sich das Brett unter den Arm und rennt quer über die Straße. Bremsen quietschen, eine Frauenstimme schreit. Paul sieht ganz dicht neben sich ein verbeultes rotes Auto. Er ist außer Puste, sein Herz klopft bis zum Hals, aber er rennt weiter und springt mit einem Satz auf die Mittelinsel, wo ein Fahrstuhlschacht Bürgersteig und S-Bahnbrücke miteinander verbindet. Am Fahrstuhl warten ein Ehepaar unklaren
Alters und eine verhärmte Frau, die Paul durchdringend anschauen. Paul prüft unauffällig, ob etwas verrutscht ist an ihm, fasst sich auch an die Stelle, wo er sein Ohr vermutet. Es ist wider Erwarten noch da. Die Tür öffnet sich, Paul drängelt sich als Erster hinein. Die sonore Stimme im Fahrstuhl sagt: »Karl-Marx-Straße. Die Tür schließt jetzt«, und auf Höhe des Bahnsteigs: »Übergang zur S-Bahn.« Aber das hört Paul schon nicht mehr, denn er hat es gerade noch in die Ringbahn Richtung Ostkreuz geschafft.

14.55 Uhr
Katrin Manzke ist auf dem richtigen Weg, muss aber kurz noch mal abbiegen
    Der muss doch wohl spinnen, rennt einfach über die Straße. Wäre mir beinahe über die Kühlerhaube gerauscht, der Junge mit dem Skateboard. Im Radio ist die Rede von Walpurgisnachthexen in Cottbus.
    Sie war schon lange nicht mehr in der Frauengruppe, sonst hätte sie vielleicht gewusst, wo Walpurgis gefeiert wird, aber Katrin Manzke hat sich heute in der Pizza eingeschrieben. Ausnahmsweise mal am Dienstag, weil Kuttners Sprechfunk wegen des 1. Mais ausfällt. Katrin Manzke ist ein Fan dieses Moderators, sie verpasst seine Sendung auf Radio Fritz nie.
    Ein paar Millimeter vor der Stoßstange ihres kleinen roten Ford Fiesta schert einer rechts rein. »Scheiß-Zuhälter-Audi«, schreit sie. Beinahe hätte sie die Einfahrt zur Tankstelle verpasst. Mit einem Ruck und ohne zu blinken schert sie ein und sieht im Rückspiegel, dass der hinter ihr einen Stinkefinger zeigt.
    Katrin Manzke hat nicht genug Geld, um den Tank vollzumachen. Bei 9,50 Euro muss sie stoppen und hofft, dass das Benzin für alle Touren reicht. Sonst muss sie, wie schon so oft, den Chef anpumpen.
    Die Kassiererin der Tankstelle guckt sie mitleidig an, weil sie ihr loses Geld aus der Hosentasche rauskramt. Das ist so eine Angewohnheit aus der Zeit, als ihre Tochter ihr ständig Geld klaute. Seitdem hat sie nur noch ihren Ausweis in der Brieftasche. Damals musste sie sogar die Hose samt Geld unterm Kopfkissen deponieren. Hat aber auch nichts genützt, denn Katrin Manzke schläft wie ein Stein. Draußen schauen ihr ein

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