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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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S-Bahnhof Neukölln fuhr er von zwanzig nach bis zwei vor halb.
    In der Karl-Marx-Straße ging er einfach geradeaus. An einer Straßenecke beobachtete er einen Dönerverkäufer, wie der mit einer langsamen, fast eleganten Bewegung das Fleisch vom Spieß herunterschnitt und auf zwei Fladenbrothälften verteilte. Es war
niemand im Laden, der diese beiden Döner bestellt haben konnte. Paul knurrte der Magen.
    Er hatte das Schulessen heute Morgen mit verstellter Stimme von einer Telefonzelle aus abbestellt. Paul Bülow sei krank, hatte er gesagt, und die Frau am anderen Ende hatte gekichert: »Na, hoffentlich hat er sich nicht den Magen verdorben.« – »Sehr lustig«, hatte Paul geantwortet und eingehängt. Wenigstens sollte das Haushaltsbudget seiner Mutter nicht durch sein Schuleschwänzen belastet werden. Das Letzte, was er heute gegessen hatte, waren die vier Apfelstücke im Zug nach Wolfsburg.
    Er kramte in seiner Tasche, fand aber nur zwanzig Cent. Der Mann stellte die beiden Döner in eine Haltevorrichtung auf der Vitrine. Er ging zwei Stufen zu den hinteren Räumen hoch und verschwand um die Ecke. Blitzschnell rannte Paul in den Laden und griff sich einen der Döner, flitzte zurück über die Straße und versteckte sich hinter einem Busch. Während er den Döner aß, beobachtete er durch die Zweige hindurch den Laden. Hinter dem Verkäufer traten zwei Jungen in seinem Alter in den Raum. Der Mann zeigte auf den einen Döner, der noch auf der Vitrine stand, und gestikulierte mit den Armen. Er ging um den Verkaufstresen herum, schaute sogar darunter und trat dann vor die Tür, um sich auf der Straße umzusehen. Paul tauchte tiefer hinter dem Busch ab und kaute schneller. Der Verkäufer schüttelte den Kopf und ging in den Laden zurück, um einen neuen Döner zu machen, nachdem er den beiden Jungen kumpelhaft auf die Schulter gehauen hatte. Paul versetzte das einen Stich ins Herz. Er wäre jetzt gern einer der beiden Jungen gewesen.
    Als der Döner verschlungen war, sprang Paul blitzschnell auf sein Skateboard und fuhr die Hauptstraße stadtauswärts, bis er zu einer halb fertigen Autobahnbrücke kam. Dahinter bog er nach rechts in eine schmale, helle Straße ab. Mitten auf dem Bürgersteig zankten sich drei kleine Mädchen. »Ich spreche Arabisch«, schrie das dunkelste der Mädchen, und die Kleinere der beiden anderen sagte hämisch: »Zigeunerarabisch ist das.« Paul konnte sich unter Zigeunerarabisch nichts vorstellen.

    Jetzt fällt ihm auf, warum hier der Himmel so weit ist. Weil die Häuser so niedrig sind.
    Paul sieht aus den Augenwinkeln, dass die Jugendlichen wie ein Schwarm Vögel ihre geschlossene Formation blitzschnell in alle Richtungen auflösen, um sich kurz vor dem Objekt der Begierde zu einem Pulk zusammenzuschließen. Das Objekt ist er, Paul.
    » Was machst ’n hier?« – »Zu Besuch.« – »Ah, ja, das konnten wir uns fast denken. Wo kommste ’n her?« – »Berlin.« – »Berlin. Berlin ist hier überall, rundherum.« – »Spandauer Vorstadt.« – »Kennen wir nicht.« – »In Mitte.« – »Kennen wir nicht.« – »Nicht weit, mit der U-Bahn.« – »Nettes Skateboard hast du da. Sieht ja fast noch ungebraucht aus.«
    Paul hat einen Kloß im Hals, der immer größer wird. Gleich platzt er aus dem Hals und fällt den großen Dicken da rechts an. »Wie alt biste ’n?«, fragt der. »Dreizehn.« – »Ich glaub’s nicht, so ’n Zwerg. Du musst ja zu mir hochschauen, ich bin auch dreizehn. Aber ich bin hier der Obermensch.« Paul schaut zu ihm hoch. Die anderen lachen. Sie lassen ab von ihm. Er dreht sich um und geht, mit eingezogenen Schultern und einem Gang, der cool sein soll, aber nur Schritte auf unsicherem Terrain verrät. Als er sich außer Sichtweite der Jugendlichen wähnt, fängt er an zu rennen. Das Skateboard ist Ballast, der schlecht gesichert hin- und herschlenkert.
    Er läuft durch ein Gewirr von Straßen, die ihm allesamt unbekannt sind. Britzkestraße. Kranoldplatz. Silbersteinstraße. Er sieht zwei große Mädchen, die zwei dunkelhaarigen Jungen hinterherrennen, die Zweite nur zögernd und erst nachdem die Erste sie aufgefordert hat. Als die Erste den kleineren der Jungen erreicht hat, schreit sie: » Wenn du mich liebst, dann geh mir nicht aus dem Weg.« – wenn du mich liebst, dann fass mich nicht an«, schreit der Junge zurück. Aber das Mädchen greift ihm in den Schritt und zieht ihn an seiner Jacke zu sich heran. Er entwindet sich dem Griff und läuft davon,

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