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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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wird bald die janze Stadt vakooft.« Er macht eine kurze Pause, um Luft zu holen. Gleich wird er mit den Ausländern anfangen, denkt Micha Trepte. »Aber eens muss ick sagen, die ausländischen Mitbürger, die hier wohnen, sind wesentlich verlässlicher, wat den Fahrschulbetrieb anjeht, als die Deutschen. Die ham aba ooch mehr Kinder, die ’n Führerschein brauchen. Is ja ooch Prestige, so ’n oller Benz, für die. Aber selbst die ziehen hier weg, und übrig bleiben die Sozialhilfeempfänger, die sich keene Fahrschule leisten können. Aber deshalb kann man den Laden nicht hinschmeißen und zumachen und einfach wegrennen. Da muss man halt durch, bis sich det allet wieda erholt hat, nich?«
    Trepte hat die Schraube gelockert und ist dabei, die Sperrung zu versiegeln. Harter Hund, denkt er, fast ein bisschen mitleidig, so lange ausgehalten gegen die Roten, und jetzt lösen sich die
Schwarzen wie von selbst auf. Drei Handgriffe noch, und der Zugang ist gesperrt. Er hebt den Kopf und fragt den Fahrlehrer: »Als ich vorhin auf dem Weg zu Ihnen war, habe ich mich gefragt, wie das eigentlich in Westberlin mit den Überlandfahrten war. Ich kann mich nicht erinnern.« – »Von den Westberliner Fahrschülern verlangten die Behörden eine sogenannte Belastungsfahrt, weil es in Westberlin ja keine Landstraßen gab. Und das hieß, dass wir dann fünf Stunden mit denen durch die Stadt gefahr’n sind.« – »Ich erinnere mich dunkel. Das ging mehrmals rundrum. « – »Das war gar nicht so rund, bis Neukölln stand man ja mitunter mehr, als det man fuhr, und denn ’n bisschen an der Grenze lang, Lübars und Reinickendorf. Die Autobahnpflichtstunden und die Nachtfahrten ham wa auf der Stadtautobahn gemacht. Aber schön is anders. Schön is anders jewesen.« An das Berlinern kann sich Micha Trepte noch dunkel erinnern. Das war schon damals außergewöhnlich. Die meisten Westberliner hatten sich im Laufe der Jahre ihren Dialekt bis auf eine leichte Färbung abgeschliffen oder waren sowieso zugezogen.
    Der Fahrlehrer sitzt in seinem Sessel wie ein Buddha, der nur die Augen bewegt, um dem Sperrkassierer Trepte dabei zuzuschauen, wie er nun aus der Nische hervorkommt und sich Hose und Jacke abklopft. » Wenn Sie das Geld zusammenhaben, zahlen Sie’s ein, und dann komm ich und stelle wieder an.« Der Fahrlehrer winkt ab. »Ick hab allet an meene Tochter übajeben. Die soll hier weitermachen. Ick geh in Rente.« – »Und was macht ein ehemaliger Fahrlehrer im Ruhestand? Unkraut jäten im Garten oder die Fensterläden des Wochenendhäuschens streichen,?« – »Wir sind Stadtmenschen, Land ist prima für drei Tage, aber nicht für dauernd. In Brandenburg is et doch so still wie im Sarg. Wenn man im Häusermeer groß geworden ist und sechzig Jahre alt ist, ja, dann sagt man sich, ey, nee. Zwei Fahrlehrer hatte ich, die wollten raus, der eine hat sich im Wendland ein Haus jekooft, hat’s aber nach ’n paar Jahren wieder vakooft, da waren ja dann nur noch so Ökochaoten, vor denen er eigentlich aus Berlin geflohen war, der ist wieder zurückjekommen, jetzt wohnt er in Lichterfelde. Der is
keine Ausnahme, die kommen alle wieder.« – »Ich würd auch nicht wegziehen aus Berlin.« – »Und ooch so Bekannte, die haben sich drüben in Bayern ’n Haus jekooft und hier in Berlin noch schnell ’ne Eigentumswohnung, damit se eben ’ne Fluchtburg haben, in die umgekehrte Richtung. Raten Se mal, wie oft die hier sind? Dauernd! Drücken sich in so ’ner engen Bude zusammen, statt auf ihrem Hektar bayrischet Land die Beene auszustrecken. Ick sach ja immer, besser Stuttgarter Platz als Stuttgart.« Trepte klappt sein Auftragsbuch zu und steckt die Zange in die Tasche. »Hier noch ’ne Unterschrift, und dann wollen wir mal wieder.« Der Fahrlehrer unterschreibt, ohne das Schriftstück zu lesen. Micha Trepte drückt ihm die Durchschrift in die Hand und wendet sich zur Tür. Sein Blick fällt auf ein Foto: der Fahrlehrer mit einem offensichtlich blinden Mann vor einem Fahrschulauto. Im Hintergrund die Landebahn eines Flugplatzes. Micha Trepte schaut den Fahrlehrer fragend an. Der lacht. » Wir fahren einmal im Jahr mit Blinden so ’n bisschen Auto, auf dem alten Flugplatz in Werneuchen. Ist ein riesiger Run drauf. Die Blinden reisen aus Leipzig, aus Saarbrücken, München hier an.« – »Und Sie sitzen dann daneben und schreien >Geradeaus!< oder >Links