Walpurgistag
Palastes der Republik nimmt er den Schleichweg über die Schlossfreiheit und biegt in die Französische Straße. Beim Linksabbiegen in die Markgrafenstraße muss er wieder frech werden und einem entgegenkommenden Renault mit Provinzkennzeichen die Vorfahrt nehmen. Dreißig Sekunden später hält er vor dem Hilton. Hosch bekommt dreißig Cent Trinkgeld in den Handteller gelegt und muss dafür noch eine Quittung schreiben. Immer wieder das Gleiche – er gibt sich Mühe, und die Leute honorieren es nicht. Der Mann grüßt im doppelten Sinne von oben herab und eilt zum Empfang. Zum Glück hat er nicht nach dem durchsuppten Verband gefragt.
Hosch fährt um die Ecke zur Leipziger. Dort nennt er eine Apotheke. Ein durchdringender Geruch nach Schweiß kriecht aus seiner Lederjacke. Auf dem Handy gibt es eine neue SMS: »ich möchte über deinen körper züngeln wie flammen«. Hosch weiß, dass er antworten muss, wenn aus dem Blind Date heute noch etwas werden soll.
14.30 Uhr
Paul Bülow bewegt sich auf fremdem Terrain und wird vom Obermenschen erschreckt
Kann es sein, dass der Himmel hier größer ist? Paul dreht sich um die eigene Achse, das Skateboard vor die Brust geklemmt. Natürlich sieht er sie lauern, dort auf dem Baugerüst neben der Autobahnbelüftung. Nur nicht anmerken lassen, dass er hier fremd ist. Aber die sehen so aus, als wenn sie das längst wüssten. Einer ist zu viel hier. Paul dreht sich um, sein Blick hält sich fest an den beiden großen Werbetafeln. Eine junge Frau verdeckt das rechte Auge mit zwei Fingern der rechten Hand. Der Arm hängt in Fetzen herunter. Der Mann nebenan, der sich mit der linken Hand das linke Auge zuhält, ist noch schlechter dran. Hinter seinem Auge hat sich das Gesicht eines Jungen herausgeschält, der schlechte Zähne hat und wahrscheinlich keine Drogen nehmen will.
Im Moment weiß Paul nicht mehr so recht, was er hier verloren hat. Er ist, mit der S-Bahn vom Ostbahnhof kommend, am Ostkreuz in die Ringbahn umgestiegen. Nein, eigentlich fing die Geschichte viel früher an. Er hat am Morgen verpasst, rechtzeitig aus dem ICE zu steigen. Bei dem Halt am Bahnhof Spandau hat sich nämlich plötzlich ein Mann mit Schlips und Anzug vor ihm aufgepflanzt und gemeint, der Platz sei für ihn reserviert, und Paul verließ, verschreckt ob des rüden Tons, fluchtartig den Zug. Gerade noch rechtzeitig ist ihm aber eingefallen, dass sein Skateboard zurückgeblieben war. Also ist er wieder in den Wagen gesprungen. Hinter ihm haben sich die Türen mit einem durchdringend atemlosen Ton automatisch geschlossen. Er hat sein Skateboard unter dem Sitz des unfreundlichen Mannes hervorgezogen, als der Zug anfuhr.
Als draußen nur noch menschenleere Felder und Waldstücke vorbeirasten, wusste er, dass seine Reise etwas länger dauern würde. Er beichtete der Schaffnerin sein Missgeschick. Wider Erwarten strich sie ihm nur über sein Stoppelhaar und sagte, das sei nicht so schlimm, sie wolle in Wolfsburg anrufen, wo ihn der Stationsvorsteher in den 694er begleiten würde, der ihn wieder nach Berlin zurückbringen werde. Sie hat ihn noch nicht einmal gefragt, ob er denn heute keine Schule habe oder wie man seine Mutter erreichen könne. Sie brachte ihn ins Kinderabteil, wo ihn die Mutter eines kleinen Jungen mit Apfelspalten fütterte. Später hat er, einen Gang zur Toilette vortäuschend, einen langen Spaziergang durch den Zug gemacht, und alles war so, wie es in seinem ICE-Buch stand. Es war seine erste Reise mit dem ICE, und am liebsten wäre er bis zum Ende mitgefahren.
In Wolfsburg angekommen, nahm die Schaffnerin ihn an die Hand und brachte ihn zur Aufsicht. »12.16 Uhr«, hat sie ihm mehrmals gesagt, »den Zug musst du nehmen.« Der Mann in der Aufsicht beachtete ihn nicht weiter, und so büxte er aus, um auf dem großen leeren Bahnhofsvorplatz Skateboard zu fahren. Gerne hätte er sich auf der anderen Seite das dunkle Gebäude mit den drei Schornsteinen näher angesehen, aber es war ein Kanal dazwischen. Ricarda Huch hieß der Zug, mit dem er 12.19 Uhr zurückfuhr (er hatte drei Minuten Verspätung).
13.33 Uhr war Paul wieder am Ostbahnhof. Die Schule war noch immer nicht vorbei. Also setzte er sich in die S-Bahn zum Ostkreuz, und dort angekommen, beschloss er, mit der Ringbahn eine Achteldrehung im Uhrzeigersinn zu fahren. Für ihn ist die Strecke der Ringbahn ein Zifferblatt. Oben im Norden am Gesundbrunnen die Zwölf, Ostkreuz viertel, halb Südkreuz und drei viertel Westkreuz. Bis zum
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