Walpurgistag
schnellen Schrittes weg. Der Geölte voraus.
» Warum hast du diese Dreadlocks? Das ist doch eher was für Kiffer, die zwanzig sind und keine Lust haben, sich die Haare zu kämmen.« – »Das war eine Wette, aber die, mit der ich sie abgeschlossen habe, ist tot.« – » Willst du darüber reden?« – »Nein.« Wir schweigen. »Und denkst du, sie kommt wieder, wenn du die Haare so lässt?« – »Nein.« Es wird Zeit, dass Helga ihr Gedächtnis
wiederfindet und aus meinem Leben verschwindet, sie fängt schon an, mich verändern zu wollen, was ich nicht ausstehen kann.
Eine Familie schlendert in dieselbe Richtung wie die Geölten vor ihnen. Der Mann trägt einen Dreitagebart und ist auffällig um einen Jungen bemüht, der ihm bis an die Hüfte reicht. Sie machen einen großen Bogen um den Mann am Boden, der jetzt aufsteht und sich den Dreck von der hellen Hose klopft. Drei Schritte hinter Vater und Sohn geht die Frau. Sie scheint komplett abwesend zu sein. »Meinst du, dass du Kinder hast?«, frage ich. Helga schweigt. Nach einer Weile sagt sie: »Ich habe nicht das Gefühl, dass mir irgendwelche Kinder fehlen.« Die Frau versucht, dem Säugling, den sie vor dem Bauch trägt, einen Nuckel in den Mund zu schieben. Die Haare hat sie zur Hälfte zu einem filzigen Knoten zusammengesteckt, und Ende April läuft sie noch mit Eskimostiefeln herum, die selbst für einen harten Berliner Winter zu warm sind. »Sie ist die Mutter seiner Kinder und lässt sich ziemlich gehen«, sagt Helga plötzlich. »Es ist dem Mann peinlich vor den anderen. Er will nicht dazugehören. Jede Faser seines Körpers versucht, sie abzustoßen. Sie macht nicht den Versuch, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Sie ist einfach nur erschöpft, sie will mal ausspannen, den Säugling weglegen, abhauen. Aber sie zwingt sich, weiter zu stillen.« Die Frau beugt sich nach dem Nuckel, den der Säugling auf den Boden gespuckt hat. Eine ältere Frau springt ihr bei und reicht ihn ihr. Die Frau steckt ihn in ihre verwaschene Jeanshose.
»Mir fällt noch etwas ein«, sagt Helga. » Wir wohnten über einer Kneipe, Feuermelder hieß die. Meine Mutter roch nach Lakritze. « – »Und dein Vater?« – »Nicht in meinem Kopf..« – »Vielleicht gab’s keinen?« – »Möglich ist es.« – »Geschwister?« – »Ich erinnere mich an ein Mädchen in der Wohnung, das irgendwann größer war als ich. Es hieß ... Augenblick.« Sie schließt die Augen. »Es war ein blauer Name.« – »Ein blauer Name? Das klingt interessant. « – »Ein Name mit Kam Anfang, denn K ist blau.« – » Kristin. « – »Nein, Kristin nicht, in Kristin ist Grün drin.« – »Wieso das?« – » Wegen dem R. Das R ist grün.« Sie scheint mir doch
sehr angeschlagen zu sein, alles in allem. »Heißt du vielleicht Iris? Oder Xenia oder Ina oder Annemarie?« Sie schüttelt nach jedem Namen den Kopf. »Rumpelstilzchen«, sagt sie, »hieß der Zwerg nicht Rumpelstilzchen?« – »Wieso bist du dir da so sicher?« – »Der im Kuhfellmantel vorhin hat gefragt, ob ich nicht Ilona bin.« – »Und, was hast du gesagt?« – »Dass mir der Name nicht bekannt sei. Aber ich muss ständig darüber nachdenken, wie es wäre, Ilona zu heißen.«
Egal ob Helga oder Ilona, ich sage ihr, dass ich mal austreten müsse, und schlendere zum Bahnhof. Als ich gerade dabei bin, in dem von mir dauergenutzten Lieblingsschließfach 044 herumzukramen und alles, was darin ist, in eine Plastetüte zu stopfen, weil mein Schließfach ab heute Annja Kobes Wohnung ist, sehe ich aus den Augenwinkeln, dass Gottfried und Bartuschewski auf mich zukommen. »Na«, sage ich, als sie in Hörweite sind, »auch kein Zuhause?« Gottfried murmelt was von 1. Mai und Doppelschichten und dass seine Frau ihn gar nicht mehr sehe. Ich kenne sie genau, sie arbeitet Normalschicht im Bürgeramt und ist für Meldeangelegenheiten zuständig. Zu ihrem Bedauern gehört das Ressort nicht mehr zur Polizei. Früher musste sie in ihrer Volkspolizistinnenuniform nur einmal die Stimme erheben, und der Bürger hat gekuscht.
Ihre alte Uniform hängt inzwischen ganz hinten im Kleiderschrank, ein mausgrauer Hänger mit Abnähern an der Seite und dazu eine Jacke in derselben Farbe. Neulich, als sie vorm Spiegel stand und der Meinung war, sie habe mindestens zwei Kilo abgenommen, hat sie den Uniformtest gemacht. Aber leider hat sie weder den Reißverschluss am Kleid noch die Knöpfe der Jacke zumachen können, und es wird ihr auch nie mehr gelingen, aber
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