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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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finde: Die gucken jenauso runter zum Schalthebel, welchen Gang se drin haben. Da sagt man dann: >Ey, guck nich nach unten, guck nach vorne.< Die lachen sich kaputt. Det is prima. Die jehen mit ihrem Handicap um, also Hut ab. Die sind janz verrückt, die wissen, ob se einen Audi A 4 oder eine A-Klasse fahren. Die befummeln alles, speichern das ab, det ist schon phänomenal.« – »Interessant«, sagt Micha Trepte, »aber ich muss.« – »Imma dran denken: rechts vor links«, sagt der Fahrlehrer, »wenn dir det Leben lieb is.« – »Es sei denn, ich fahre auf der Hauptstraße.«
    Als Trepte aus der Tür tritt und sich noch einmal umdreht, um sie zu schließen, sieht er den Fahrlehrer winken. Er hebt kurz die Hand. Draußen holt er sein Auftragsbuch aus der Tasche, um die Liste zu prüfen. Nollendorfstraße, der nächste säumige Kunde.

15.30 Uhr
Alex und Helga gehen an die Luft, und Letztere glaubt sich erkannt
    Die vertikalen Stäbe der Weltzeituhr zerschneiden die Stunden in zwei fast identische Hälften. Helga hat mich überredet, an die Luft zu gehen. Den Ausdruck »an die Luft« habe ich lange nicht mehr gehört. »Gut, gehen wir auf meinen Balkon«, habe ich gesagt, aber sie hat nicht verstanden, was ich meine. Sie kommt mir von Stunde zu Stunde apathischer vor. Zuletzt hat sie halb auf den Stufen vor dem Hotel gelegen, und ich musste mich danebensetzen und ihren Kopf auf meinen Schoß betten, so als wären wir ein erschöpftes Liebespaar, denn die Männer vom Sicherheitsdienst des Hotels kennen keine Gnade. Sitzen bleiben darf nur, wer nicht liegt. Ich wollte vermeiden, dass sie nach ihrem Ausweis gefragt wird. Das machen sie gerne mit den Neuen, um sie abzuschrecken, damit sie sich nicht einleben. Zwischendurch habe ich sie auf den U-Bahnsteig Richtung Pankow gebracht. Eine Künstlerin hat dort vor zwei Monaten Polster installiert. Ich habe Helga an die gepolsterte Säule gelehnt und gesagt, sie soll sich mal ausruhen, aber sie war sofort auf den kalten Betonboden gerutscht, ohne überhaupt den Versuch zu unternehmen, im Fallen die Hände auszustrecken, um den Sturz abzumildern.
    »Hast du Schmerzen?« – »Ich weiß nicht, unbestimmt. Als habe sich die Erinnerung verkrochen, um nicht verletzt zu werden. « – »Die alten Griechen kannten fünf verschiedene Worte für Schmerz. Der mit Angst verbundene Schmerz hieß achos, der mit Kälte verbundene álgos. Odýnē drückte den starken Zahnschmerz oder den von Bisswunden aus. Ponos den Schmerz extremer Erschöpfung. Kēdos den Schmerz über den Verlust einer geliebten Person. Kannst du den Verlust genauer benennen?« – »Nein. Vielleicht ist es etwas zwischen ponos und kēdos, obwohl ich nicht
weiß, wem oder was ich nachtrauere. Da ist niemand in meinem Kopf, der dieses Gefühl in mir auslöst.«
    Der Brunnen in der Mitte des Platzes ist mit dünnen Metallzäunen abgesperrt. »Darf ich dich etwas fragen?« – »Ja.« – »Ich verstehe nicht, warum du hier sitzen musst. Einen hässlicheren Platz gibt es nicht.« – »Woher willst du das wissen, wenn du nicht einmal deinen Namen erinnerst?« Sie schweigt. »Aber du hast ja nicht ganz unrecht. Ein Amerikaner hat mal zu mir gesagt, der Alexanderplatz sei so furchtbar, dass es ihn nicht wundern würde, wenn unter dem Pflaster große Ölvorkommen lagerten, die ja bekanntlich nur in unwirtlichen Gegenden zu finden sind. Aber ich mag diesen Platz, so wie er ist, er entblättert die Leute. Sie können sich nicht verstecken. Sie gehen ganz ungeschützt von A nach B und erzählen ihre Geschichte allen, auch denen, die sich nicht dafür interessieren. Siehst du die drei dort? Die bringen eine Dynamik in das Schläfrige dieses Nachmittags. Sie haben viel vor, der Rechte hüpft fast.« – »Der sieht aus wie ein Türsteher mit seinem ausrasierten Nacken und dem schwarzen T-Shirt, das die Muskeln zur Geltung bringt.« – »Ich weiß auch nicht, warum sich manche Männer die Haare ölen müssen.« – »Damit die Angreifer abrutschen, wenn sie versuchen, an den Haaren zu ziehen oder sich festzuklammern.« Ich muss lachen. Eine Sekunde lang ist auch in ihren Augen so etwas wie ein Lächeln zu erkennen. Der Strizzi schreit plötzlich etwas in einer fremden Sprache. Türkisch ist es nicht. Im nächsten Moment wird er von den beiden anderen von einem Mann weggezogen, der am Boden liegt. Ich habe nur einen Moment lang nicht auf diese seltsame Dreierkonstellation geachtet, schon war ein Vierter fällig. Sie laufen

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