Walpurgistag
das weiß sie noch nicht. Im Moment nascht sie nachts direkt aus dem Kühlschrank. Gottfried weiß nichts von diesen Gelüsten. Es würde ihn auch nicht interessieren, außerdem mag er es kuschelig. Aber was geht’s mich an.
Bartuschewski sagt: » Wer nicht arbeitet, dem erzähl ich nichts von meiner Arbeit.« Dabei ist er bemüht, sich betont langsam
weiße Latexhandschuhe über seine Wurstfinger zu streifen. Es gelingt ihm nicht, eine gewisse Eleganz sich dabei zu entwickeln, wie er es aus Filmen abgeschaut hat, wo der schnieke SS-Offizier sich die Lederhandschuhe überzieht, um den Gefangenen grausam zu peitschen oder zu würgen, bis der alles erzählt. Gottfried ist schneller fertig und kramt schon in meinen Sachen. »Sie haben da ein Loch im Handschuh«, sage ich zu ihm, »nicht dass Sie Aids kriegen, wenn Sie meine Bücher durchgehen. Ist übrigens alles erstklassige Lektüre.« Ich halte Cortázars Rayuela hoch und Joyces Dubliners. »Heute habe ich noch einen Rilke gefunden, von 1909. Er lag auf einer Bank im Lichtenberger Stadtpark. Rilke, Sie wissen schon, der mit dem Panther hinter den Gitterstäben.« – »Bücher interessieren mich nicht«, sagt Bartuschewski, »wenn ich Panther sehen will, gehe ich in den Zoo«, und hebt angeekelt eine meiner Unterhosen hoch. Sie ist frisch gewaschen, aber das merkt Bartuschewski nicht. Für ihn stinkt alles, was mir gehört. »Naja«, sage ich, »Polizisten haben ja auch einen Ruf zu verlieren.« Bartuschewski holt ein bisschen zu viel Schwung, als er seinen Ellenbogen unbemerkt von jedwedem Zeugen in meine Rippen stößt. Ich krümme mich kurz zusammen, weil er die erste Rippe unter dem Herzen getroffen hat. » Wir leben in der Freiheit, jeder kann lesen, was er will«, sagt Gottfried, fast ein bisschen stolz auf seine Toleranz, sicher das Ergebnis einer Weiterbildung für ehemalige Volkspolizisten. Den Schlag hat er dezent übersehen. » Was haben wir vor...« Bartuschewski schaut auf seine Armbanduhr, die vor zwei Monaten ein Gratisgeschenk für den Abschluss eines Miniabos der Berliner Zeitung war, »... exakt fünfzehn Stunden und einunddreißig Minuten ausgemacht?« Ich schweige. »Platzverbot, genau, Alex, du sagst es.«
»Das ist hier ein Bahnhof«, gebe ich, noch leicht japsend wegen der Schmerzen, zu bedenken, »und kein Platz, und genau genommen sind Sie hier gar nicht zuständig, sondern der BGS, aber ich weiß, ich weiß, Gefahr im Verzug, und ich kann Sie beruhigen, ich ziehe hier aus, in ein Revier, wo freundlichere Kontaktbereichsbeamte wohnen, und überhaupt ist der Spuk in
exakt« – ich nehme mir Bartuschewskis Arm und gucke auf das Zifferblatt seiner Uhr – »acht Stunden und sechzehn Minuten vorbei, dann zieh ich den Sack zu.« Gottfried und Bartuschewski wissen natürlich nicht, was ich meine. Sie schauen sich nur vielsagend an, und Bartuschewski sagt, nachdem er unsanft meine Hand abgeschüttelt hat, als wäre sie aussätzig: »Eine vorbildliche Haltung, dem Staat nicht länger auf der Tasche zu liegen. Nur leider machen das die wenigsten von euch, und du bist bestimmt auch zu feige dazu.« Dabei deutet er mit einer quer über den Adamsapfel gezogenen flachen Hand einen Exitus an. Er ist eben ein einfacher Charakter. Ich nehme Gottfried ein feuchtes Handtuch weg und stopfe es in die Tüte. »Finger weg«, sage ich und klappe die Tür des Schließfachs zu. Dann verlasse ich zügig den Bahnhof.
Kurz vor dem Ausgang schaue ich mich noch einmal um. Gottfried und Bartuschewski sehen komisch aus in ihren grünen Uniformen, aus denen vier cremefarbene Latexhände heraushängen, die nun nichts mehr zu tun haben. Meine Rippen schmerzen. Ich mache, dass ich im Gewühl des Kaufhauses verschwinde. Ein guter Weg, um abzukürzen. Helga sitzt immer noch in derselben Haltung auf den Stufen.
»Mir ist wieder was eingefallen. Ich hatte einen Waschlappen für oben und einen für unten. Der für oben war hell und der für unten dunkel. Und einen Kulturbeutel fürs Ferienlager. Und die Hustentropfen hießen Bromhexin. Man hat aber immer Brommhexin gesagt.« – »Das klingt doch sehr nach Friedrichshain«, sage ich.
Wir schweigen. Helga dreht eine Strähne immer wieder zu einer Locke und lässt sie fallen. Dabei schaut sie beständig den Leuten zu, die die Treppe der U 2 heraufkommen. Ihr Blick bleibt an einer Frau hängen und verfolgt sie, wie sie langsam und ins Gespräch mit einer sehr alten, sehr aufrecht gehenden Frau vertieft über den Platz läuft.
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