Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
können.« – »Lass sie doch. Solange ich nicht gezwungen bin, mir so was im Fernsehen anzusehen. Oder sollte ich das?« – »Ja, damit du weißt, wie die ticken. Das Ohr an der Arbeiterklasse«, sagt die Kräftige und zieht ihre Schuhe aus. »An der arbeitslosen Arbeiterklasse. Außerdem bist du ja selbst öfter mal arbeitslos gewesen.« – »Erwerbslos. Im ersten Stadium. Und mach mich nicht madig. Sonst hol ich mir ’n Termin bei der Psychologin des Arbeitsamtes und sage, dass du Schuld hast.«
    Die Tüte ist jetzt in Höhe der Tankstelle und verliert an Höhe. Die Kräftige schaut ihr hinterher, erstarrt plötzlich, hat sie sie, da am Zaun stehend, entdeckt? Dreht sich weg, redet, leiser jetzt. »Mit der Psychologin meines zuständigen Arbeitsamtes saß ich in der Philosophievorlesung. Die war Jahre nach mir noch nicht fertig, weil sie erst mit achtundzwanzig angefangen hat, Kinder zu kriegen. Konnte gleich sitzen bleiben beim Arbeitsamt, als sie sich nach dem Studium dort gemeldet hat.« – » Als Psychologin hat die bestimmt ’ne Couch und nicht diese angeschraubten Stühle wie im Wartebereich. « – » Wer weiß, ob die jemals Freud gelesen hat. Die war brav, die hat noch an die historische Mission geglaubt.« – »Du doch auch.« – »Aber nicht mehr im fünften Studienjahr«, sagt die Kräftige
und reibt in den Zwischenräumen ihrer Zehen herum. »Naja, aber es fragt sich, ob Psychologin im Arbeitsamt nicht vielleicht doch wichtiger ist als Dramaturgin am Theater. « – »Dramaturgische Mitarbeiterin auf Werksvertragsbasis«, sagt die Kräftige, schnippt den Dreck weg und sagt: »Warum du mit mir in der Ästhetikvorlesung gesessen hast, wenn du Theater überflüssig findest, ist mir auch schleierhaft. « – wofür wird das hier eigentlich genutzt, wenn es fertig ist?«, fragt die Mutter, um die Diskussion abzubrechen. »Ich glaube, eine Skaterbahn, bauen sie aber schon seit Jahren dran.« – »Cool, Klara, hast du gehört? Da können wir endlich mal wieder Rollschuh laufen.« Klara stochert mit der Schippe unter der Grasnarbe, antwortet nicht. » Was war hier eigentlich früher?«, fragt die Mutter. »Mir fehlt jede Erinnerung.« – »Ein Schwimmstadion für Olympiakader«, sagt die Kräftige. »Eine Bekannte von mir hat hier mehrere Jahre als Bademeisterin gearbeitet, bis es ihr zu langweilig wurde, denn sie musste nie jemanden retten. Die konnten ja alle schwimmen.« – »Das möchte man meinen.« – »Aber die meisten nur im Becken. Olympiakader waren wie überzüchtete Tiere, wie diese bunt schillernden Koi, die in jedem Teich in freier Wildbahn sofort gefressen werden würden.« Die Mutter schaut sie etwas verständnislos an. »Die Koi sind einfach nur dazu da, schön zu sein, und genauso beherrschen die Schwimmer die Bewegung des Schwimmens nur, um zu gewinnen, nicht um sich über Wasser zu halten. Das Meer ist denen zu groß. Selbst in Seen haben sie Angst. Ein Tausendfünfhundert-Meter-Spezialist soll beim Baden im Meer ertrunken sein.« – »Glaub ich nicht. Das ist wieder eine deiner Geschichten«, sagt die Mutter. »Doch. Er war bei den Olympischen Spielen gestartet und hatte es sogar in den Endlauf geschafft. Im Meer aber hat ihn der Mut verlassen, weil das eben nach fünfzig Metern keine Wand hat, von der man sich abstoßen kann, und da ist er ertrunken. Ist doch ein schöner Tod für einen Schwimmer.« – »Na, ich weiß nicht«, sagt die Mutter, «ich finde das eher kontraproduktiv.«
    Sie schweigen ausdauernd, bis die Mutter es nicht mehr aushält und sich zu dem Mädchen umdreht, das schon auf Sand gestoßen
ist. »Na, ein Glück, dass das hier kein Trümmergrundstück ist, sonst hätteste vielleicht schon ’ne Hand jefunden. Zeig ma, reicht det schon? Mach mal noch am oberen Rand ’ne Runde, an Tiefe müsst es genug sein.« Die Mutter holt einen Arbeitshandschuh aus ihrem Beutel und zieht den Baum aus dem Plastetopf.
    »Seit wann hast du eigentlich einen Weihnachtsbaum?«, fragt die Kräftige, sich nach einem im Gras versteckten Stöckchen streckend. »Ist das nicht kleinbürgerlicher Käse?« – »Klara wollte einen haben.« – »Gar nicht«, widerspricht Klara, »mir reicht der bei Oma.« Die Mutter rollt mit den Augen. Die Kräftige entfernt mit dem Stöckchen den Dreck unter ihren Zehennägeln.
    »Ja, Scheiße, wenn man den Kindern Denken beibringt. Richtet sich zuallererst gegen einen selbst«, sagt die Kräftige lachend. »Da spricht die Diktatorin, die das

Weitere Kostenlose Bücher