Walpurgistag
Bollywoodparty oder ein indischer Film läuft, wo er jemandem die Papiere abnehmen kann, aber Aki braucht dringend eine Lesebrille. Vielleicht ist es ihm auch einfach zu hell, oder er kann wirklich nicht lesen, wie Liebig immer behauptet.
Liebig fehlt mir. Sollte er es wirklich wahrmachen und uns nicht mehr besuchen, werden wir umziehen müssen, wenigstens auf die andere Seite der Ringbahn. Aber lange bleiben werden wir hier sowieso nicht, das Haus wird ja abgerissen. Dabei sieht es von außen gar nicht so unbewohnt aus, auch wenn Alex behauptet, es würden nur noch achtzig Mieter auf hundertfünfzig Wohnungen kommen. Wer auszieht, wird gebeten, seine alten Gardinen dranzulassen, und der Name wird auch nicht mehr vom Klingelschild entfernt.
Als ich von der Beerdigung kam, habe ich außerplanmäßig ein Protokoll über Vaters Zustand verfasst. Ich schrieb Datum, Uhrzeit, Temperatur und Lage auf. An Papas Löffelchenstellung hat sich nichts geändert, nur hat er durch die Luftveränderung Reif angesetzt. Papa sieht aus wie eingeschneit. Auch misst er nur noch minus acht Grad. Er ist nun genau zehn Jahre und fünf Monate eingefroren.
Ich bin jetzt achtunddreißig Jahre alt. Und eigentlich ist es Zeit, Vater loszulassen, was hieße, die Entdeckung Papas durch unbefugte Dritte zuzulassen und durchzuziehen, was Alex geraten hat: Stecker rein und die Wahrheit sagen. Alles andere werden Polizei und Justiz beweisen müssen.
Ich höre es rumoren im Abstellraum und denke, was will Aki da an der Truhe, aber als ich ins große Zimmer komme, sitzt er am Fenster und ruft: »Besser als Fernsehturm. Diese Aussicht.«
Ich stürze aus der Wohnungstür und sehe noch, wie ein Junge mit einem Skateboard aus dem Abstellraum türmt und im Treppenhaus verschwindet. Tür und Truhe stehen sperrangelweit offen. Ich renne dem Jungen hinterher. »Lass dich hier ja nicht mehr
blicken«, schreie ich. So kann’s kommen, wenn man einmal in Gedanken nachgibt. Papa kann nicht in dem unverschließbaren Abstellraum bleiben, den im Grunde jeder im Haus betreten kann. Ich weiß jetzt, dass für eine Entdeckung noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Ich kann meinen gefrorenen Vater nicht einfach so gehen lassen. Außerdem hat er es nicht verdient, eine von diesen Meldungen in der BILD zu sein. Ich sehe die Lettern schon vor mir an den Aufstellern vor den Zeitungsläden: »Vater Jahre in Truhe verbannt« oder »Eistochter weggesperrt«.
»Aki«, rufe ich, »der Papa muss zu euch ins Kinderzimmer, und Alex’ Bücher können in den Abstellraum. Die wird schon keiner klauen.« Aki, froh, dass etwas zu tun ist, trägt die Truhe aus dem Abstellraum in die Wohnung. Es sieht aus, als wäre sie aus Pappe und leer. Aki ist immer noch der stärkste Mann der Welt, auch ohne Steroide.
17.55 Uhr
Katrin Manzke dreht einen Film im Kopf und muss in ein fast verlassenes Hochhaus
Ich stelle mir vor, die drehen hier eine Dokusoap über Menschen bei der Arbeit, die Kamera würde erst mal nichts weiter tun, als uns zuzuschauen. Wenn ich dann dran wäre, in die Kamera zu sprechen, würde ich sagen: »Sie dürfen nicht denken, dass das hier das Unternehmen Pizza To Drive ist. Es heißt bei uns nur: Die Pizza der gescheiterten Existenzen.« – »Mann, kann nicht mal jemand die Tür zumachen? Man kann ja vor lauter Glockengeläut sein eigenes Wort nicht verstehen«, schreie ich, aber niemand reagiert, und so mache ich weiter im Text. »Da können Sie sich ja vorstellen, was für ein Belag da drauf ist.« Das ist nicht gut. Das würde bestimmt rausgeschnitten. Am Ende käme sowieso Patrick ins Fernsehen, weil dem immer die Mädchen nachschauen und er auch sonst ganz sexy ist.
Katrin Manzke schaut an sich herab und fragt sich, wie sie wohl im Fernsehen rüberkäme. Wahrscheinlich sieht sie aus wie fünfzig. Die Haare müssten mal gemacht werden, da sieht man schon auf drei Metern den Spliss. Sie müsste mal wieder zu einem dieser Die-Masse-macht’s-Friseure gehen, ein echter Friseur ist schon lange nicht mehr drin im Budget. Guckt sie sich halt schön, das kann sie sehr gut, am besten im Spiegel der Pizza, denn der funktioniert durch die Fettschlieren wie ein Weichzeichner, sodass man die Fältchen und die Mitesser nicht mehr so genau sieht.
Wenn das Fernsehen hier wäre, dann würden Susanne, Hardy, Hatice und Melanie sicherlich nicht in der Sitzecke klönen, sondern so tun, als wäre gerade eine Großbestellung reingekommen. Und Melanie hätte sich auch ihre
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