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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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jedenfalls
    Helga erschrickt, als plötzlich jemand dicht hinter ihr steht und ein warmer Atem ihr linkes Ohr streift. »Beschattest du mich?«, fragt sie, als sie ihre Sprache wiedergefunden hat. »Ich mag die Aussicht hier im Neuen Hain«, sagt Alex. »Der Blick über die Wiese auf das Polendenkmal und den kleinen Bunkerberg. Bin fast jeden Tag hier. Weißt du vielleicht, wie der heißt, unter Berlinern? « – »Mont Klamott«, sagt Helga, »aber du hast meine Frage nicht beantwortet.« – »Manchmal glaub ich, du bist vielleicht Schauspielerin und spielst die retrograde Amnesie nur. Bereitest dich sozusagen auf eine Rolle vor.« – »Und du bist viel zu clever für einen Obdachlosen.« – »Woher willst du wissen, wie Obdachlose sein müssen, wenn du noch nicht mal weißt, wie du heißt?« – »Ich muss mal irgendwas mit solchen Leuten wie dir zu tun gehabt haben. Es wird mir schon wieder einfallen. Ich bin da optimistisch.« – »Hast du herausbekommen, wer die Frau ist?« – »Viola. Nachname vergessen. Ich habe sie vor langer Zeit gekannt. Sie hat mich heute auf dem Alex angeschaut, als hätte ich ihr was getan. Ich bin ihr dann nachgelaufen. Erst war sie in der Apotheke, und danach ist sie mit der U 2 zur Dimitroffstraße gefahren.« – »Sehr interessant.« – »Wieso?« – Weil die schon seit ein paar Jahren Danziger heißt.« – »Ich meine die U-Bahnstation. « – »Die heißt Eberswalder. Du musst also früher da mal gewesen sein.« – »Wer weiß? Sie ist dann in eine kleine Seitenstraße eingebogen, wo ein Schwimmbad ist.« – »Oderberger. Ist auch schon seit ’87 geschlossen.« – »Sie ist gegenüber in einem Haus verschwunden. Ich habe gewartet. Nach zwanzig Minuten ist sie mit einem Fahrrad wieder rausgekommen. Das war dann ein bisschen schwierig. Ich musste ganz schön rennen, um sie nicht zu verlieren. Sie hat dann auf der Wiese da drüben diesen
kleinen Weihnachtsbaum eingepflanzt. Mit einer anderen Frau und einem Mädchen, so um die zwölf, Klara heißt sie. Die Mutter heißt Heike. Sehr nervös. Kommt mir auch irgendwie bekannt vor. Gerade eben sind sie abgehauen. Wenn ich so drüber nachdenke, müssten der Mann im Kuhfellmantel, Viola und Heike aus ein und derselben Erinnerungszeit sein. Jedenfalls haben die beiden sich für heute Abend zum Hexentreffen im Mauerpark verabredet.« – »Heute ist der 30. April, Walpurgisnacht.« – »Sagt mir nichts.« – »Du wirst schon sehen.«

17.45 Uhr
Annja Kobe richtet sich in Lichtenberg ein
    Wenn ich einen Ausweis hätte, dann würde da jetzt bei Adresse Frankfurter Allee 135 stehen. An der Ecke Möllendorffstraße. Vor der Wende Jacques Duclos. Alex hat erzählt, dass die Kinder im Haus immer Jack das Klo zu der Straße sagten. Jetzt also Möllendorff, mit zwei f. »Jeneralfeldmarschall Möllendorff meldet sich zum Dienst. Jehorsamst, Majestät«, quäkte Alex, als wir hier reinkamen, und erzählte gleich die Geschichte, wie Möllendorff den Siebenjährigen Krieg entschied, weil er einen Friedhof in Leuthen einnahm. »Ich sage nur: die Schiefe Schlachtordnung der preußischen Armee«, aber niemand wollte das hören. Aki kann Möllendorff überhaupt nicht aussprechen. Es klingt bei ihm wie Mohrendoof. Aki geht mir auf den Keks. Dauernd stellt er die Möbel um. Er hat auch schon Alex’ Büchersammlung nach Farben sortiert. Er hat nichts zu tun. Kein Umzug heute, bei dem er helfen und sich ein paar Euro verdienen könnte. Außerdem braucht er dringend neue Papiere. Im Gegensatz zu mir, die ich wie eine friedliche Lichtenberger Nachbarin aussehe, wird Aki hier sofort für einen Zigeuner gehalten. Und wenn seine Sippe aus aller Welt ihn besuchen kommt, dann kann er gar nicht so schnell gucken, wie sie allesamt wieder in Abschiebehaft sitzen.
    Aki hat schon zweimal in Grünau gesessen. Unsereins hält das ja für einen beschaulichen Ausflugsort, wo man früher, als die Grenze noch zu und der Weiße See noch eine Kloake war, nachts zum Baden hinfuhr. Für Leute ohne Papiere ist der Knast in Grünau der Eingang zum Hades. Beim ersten Mal hat Aki angeblich die Gitterstäbe auseinandergebogen und sich aus dem zweiten Stock abgeseilt. Beim zweiten Mal hat Alex ihn da rausgeholt. Wie, hat er nicht verraten. Alex ist in solchen Sachen
extrem verschwiegen. Ich nehme an, dass da einer seiner früheren Kollegen arbeitet, der ihm noch einen Gefallen geschuldet hat.
    Ich habe Aki eine Zeitung gegeben, er soll mal nachschauen, ob heute irgendeine

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