Walpurgistag
amerikanischen Variante schrittweise und unbemerkt von den Stammkunden zur italienischen zu wechseln. Das Argument, das spare Kosten, hat den Boss überzeugt.
Katrin mag es nicht, wenn nichts zu tun ist. Dann verdient sie keinen Cent, außer dem mickrigen Stundenlohn, und langweilt sich. In der letzten Nacht hat der Boss die Küche renoviert. Das war eine Auflage von der Hygiene. Da die Deckenlampen noch sehr dreckig sind, holt Katrin Leiter und Schraubenzieher und baut sie auseinander. Die anderen sind immer ein bisschen befremdet, wenn sie als Frau mit Hammer und Schraubenzieher hantiert, aber im Gegensatz zu ihren jüngeren Kolleginnen und Kollegen hat sie noch eine solide polytechnische Ausbildung in der Schule bekommen. Wenn sie die nicht gehabt hätte, hätte sie nach der Scheidung nie ein Loch in die Betonwände ihrer Wohnung bekommen. Die Kinder lernen ja heute nicht mehr, wie man mit Handwerkszeug umgeht.
Unter ihr macht Hardy Knoblauchsoße, und Katrin muss auf passen, dass der Dreck aus der Lampe nicht in den Topf fällt. Sie scheint ihr 1992 seit der Eröffnung nicht wieder abgeschraubt und gereinigt worden zu sein. Das Telefon klingelt, der Boss legt eine süßliche Stimme auf: »Aber natürlich, mein Herr, wird gemacht, dreimal Soße extra, hab ich aufgeschrieben, ja.« Dann ruft er: »Katrin, eine Tour. Hauert, Frankfurter Allee 135.« – »Boahh, nee, nich Hauert«, sagt Katrin. » Wir können uns die Kunden nicht aussuchen.«
Katrin hatte eigentlich angekündigt, nie wieder zu Hauert zu fahren, weil der ihr Mitte Januar die vierzig Euro nicht zurückgegeben hat, die sie ihm zu viel rausgegeben hat, weil sie einen Fünfzig-Euro-Schein mit einem Zehner verwechselt hat.
»Lass dir Zeit«, sagt Katrin zu Hardy und schrubbt noch zwei der Lampenschirme im Ausguss. Aber Hardy ist wie immer flink. Katrin nimmt ihre Pizzatasche und steckt Hauerts Jumbopizzen
und den Salat mit dreimal Soße ein. Hat wohl wieder eine neue Freundin.
Das Hochhaus an der Frankfurter Allee Ecke Möllendorffstraße ist nur noch spärlich bewohnt, es gibt hier kaum mehr Familien, fast nur noch alleinstehende Männer. Zwei Drittel der Pizza-Kunden wohnen in solchen Buden, denen man schon von der Wohnungstür aus ansieht, dass diesen Leben etwas Entscheidendes fehlt. Katrin sucht den Namen auf der Tafel mit der alphabetisch geordneten Liste der Bewohner, die die Hochhäuser alle haben, denn damals, als diese Wohnungen noch begehrt waren, wohnten zu viele Menschen hier, als dass man als Fremder bei hundertdreißig Namen auf Anhieb die Klingel gefunden hätte. Katrin hat schon mal überlegt, einen orangefarbenen Klebepunkt neben die Klingel ihrer Stammkunden zu machen, dann bräuchte sie beim nächsten Mal nicht mehr zu suchen. Die Gegensprechanlage ist alt und zerhackt die Worte. Aber Katrins Zauberwort »Pizza« öffnet die Tür. Das würde auch gut kommen im Fernsehen, so mit Kommentar unterlegt, à la: »Neunzig Prozent der Frauen Ostdeutschlands müssen sich aus Mangel an geeigneten Arbeitsplätzen in ihren Lehrberufen mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, und sie sind sich für nichts zu schade«, oder so ähnlich. Der Flur ist verrottet, hier haben Leute mit allen möglichen Flüssigkeiten ihre Sprüche an den Wänden hinterlassen. Das häufigste Wort ist Tod. Der herunterkommende Fahrstuhl macht ein Geräusch, als wolle er ungebremst bis in den Keller stürzen, der zweite ist außer Betrieb.
Das Haus steht auf Abriss. Hätte sich keiner träumen lassen, dass die Band Einstürzende Neubauten so viel Durchblick hatte. Katrin mag die Einstürzenden Neubauten, Kuttner hat die früher öfter gespielt. Sie würde ja gerne wissen, wie Kuttner so wohnt, aber seine Adresse steht nicht im Telefonbuch, auch seine Nummer nicht. Der lebt bestimmt nicht in der Platte. Schade, dass der noch nie ’ne Pizza bestellt hat bei uns. Wenn ich die Adresse hätte, würde ich einfach so hinfahren, klingeln und ’ne Pizza, extra von Hardy gestaltet, liefern. Würde ja gern mal sein Gesicht sehen,
wenn ich auf seine verwirrte Bemerkung, er habe nichts bestellt, sage, die habe ein Fan für ihn in Auftrag gegeben. Ich könnte ja so nebenbei einflechten, dass ich ihn schon seit zehn Jahren höre.
Der Fahrstuhl geht mit einem quietschenden Geräusch auf, und Katrin bleibt fast das Herz stehen, als jemand aus der Tür tritt. Sie erwartet in diesem Haus eigentlich niemanden mehr. Halt, den kleinen Typen kennt sie doch, das ist der mit dem
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