Walpurgistag
umgestellt hat. Sie entreißt ihm die Fernbedienung wieder und setzt sich darauf. Der Mann reißt den Stecker heraus. Naja, schlussendlich schmeißt er den ganzen Apparat aus dem achtzehnten Stock. Ohne zu gucken. Mama würde jetzt sagen: »Na, zum Glück hat er nicht seine Olle rausgeschmissen.« Paul zittern die Knie immer noch ein wenig.
Hoffentlich kommt Klara bald. Eigenartig verkrümmt lag der Mann da in der Truhe, mit Reif überzogen. Paul erweitert seinen Radius, weg vom Hochhaus, mehr in die Nähe des S-Bahnhofs. Hinter einer Grünanlage aus dichten Büschen entdeckt er einen kleinen Brunnen.
Auf einem Sockel in der Mitte hockt ein Junge, etwas größer als er. Wenn er nicht aus Bronze wäre, könnte man ihn für einen echten Menschen halten. Seine Mutter kann Figuren, die wie echte Menschen aussehen, nicht ausstehen, Paul schon. Der Mann in der Truhe hat gelächelt. Und kalt war er. Das rechte Bein der Figur kniet, das linke hat sie aufgestellt, an den Seiten sind die Rippen zu sehen. Sie hält mit dem linken Arm einen Fisch ins Licht. Der rechte Arm hängt herunter, die Hand greift ein Netz. Was will der Junge mit dem Fisch mitten im Brunnen? So nackt, wie er ist, kann er sowieso nicht einkaufen gehen. Jemand hat etwas auf seinen bronzenen Penis geschrieben, aber Paul kann die Schrift nicht lesen, es ist ein Graffito in demselben Orange wie die Blüten, die zwischen die Beine des Jungen auf den Sockel gelegt worden sind. Das sieht schön aus. Paul würde sie gerne holen, um sie Klara zu schenken, aber der Brunnen ist schon in Betrieb, zwölf Fontänen spritzen einen Meter hoch. Die Kälte des Mannes hat ihn an ein gefrorenes Hühnchen erinnert. Seine Mutter hat mal ein Kunstwerk aus gefrorenen Hühnchen gemacht. Am Ende mussten sie drei Tage lang Hühnchen essen. Ob der Mann auch ein Kunstwerk ist?
Paul schlüpft aus Schuhen und Strümpfen und hält die Füße ins Wasser. Es ist fürchterlich kalt, und er zieht sie gleich wieder zurück. Während er seine Füße mit den Strümpfen trocknet, beobachtet er eine Frau mit bunten Röcken und einem Kopftuch, die sich dem Rotkreuzcontainer an der Ecke nähert. Im Arm hat sie ein kleines Kind. Kurz vor dem Container lässt sie es herunter. Es ist ein Junge. Er hüpft herum, während die Frau die Klappe auf- und zumacht, ohne einen Sack mit Kleidung hineinzuwerfen. Pauls Neugier ist jetzt geweckt. Die Frau beugt sich nach unten, fängt den hüpfenden Jungen ein, hebt ihn hoch,
sagt ihm etwas ins Ohr, legt ihn dann in die Ablage und schiebt den Hebel blitzschnell nach oben. Der Junge verschwindet im Rotkreuzcontainer.
Paul möchte hinrennen und der Frau einen Faustschlag verpassen, aber er ist wie erstarrt. Was ist das für ein Nachmittag? Erst der gefrorene Mann in der Kühltruhe und nun das Kind im Container. Die Frau hat das Ohr an den Kasten gelegt und spricht mit dem Blech in einer fremden Sprache, Sätze, die in Fetzen zu Paul herüberfliegen. Aus dem Container kommt ein Geräusch, das Paul an den Märchenfilm erinnert, in dem in einer Szene ein Kind aus einem Brunnen spricht. Die Frau betätigt erneut den Hebel, um die Ablage verschwinden zu lassen, innen brummt es erst und klappert dann, sie betätigt den Hebel, was ihr jetzt schwerer fällt, und der Junge erscheint in der Ablage, einen Sack eng an den Bauch gepresst.
Paul hat die Truhe gleich wieder zugemacht.
Die Frau hebt den Jungen herunter, nimmt den Sack und kippt ihn auf den Gehweg aus. Sie wühlt in den Sachen, greift nach einer Bluse, hält eine Hose ins Licht. Schließlich nimmt sie einen pinkfarbenen Kinderanorak und steckt ihn in ihre Umhängetasche. Den Rest lässt sie auf der Straße liegen. Sie hebt ihr Kind auf den Arm und geht bei Rot über die Straße in Richtung S-Bahnhof Frankfurter Allee. Ein alter Mann schüttelt seine Faust und schreit hinter ihnen her: »Scheißzigeuner.« Dann beugt er vorsichtig den Rücken, bis seine Fingerspitzen an die Sachen reichen, räumt den Beutel wieder ein und schiebt ihn in die Ablage, wo eben noch das Kind war. Der Sack verschwindet. Paul holt tief Atem.
18.48 Uhr
Annja Kobe beschaut und beschnuppert ihre neue Identität
Ich jubele. Neue Papiere! Die alten von Danielle habe ich schon aus meiner Brieftasche entfernt, Namen, Geburtsdatum, Adresse, Alter – alles augenblicklich vergessen. Adieu, Baby, du warst mir jahrelang treu. Jetzt lerne ich die neuen auswendig: Mein Name ist Katrin Manzke. Katrin ohne h, sehr wichtig. Ich bin am 7. August
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