Walpurgistag
dass es sogar Hymnen auf dich jibt. Die letzte Zeile hab ick nich verstanden. Heißt das, dass Stalin ein Synonym für die Zeit ist? Dass man also fragen könnte: Wie viel Stalin bleibt mir noch bis zum Tod? Frau Schweickert: Das ist mir zu spitzfindig.
Frau Menzinger: Mein Hund ist also die Zeit. Naja, der tickt aber ooch nich richtig.
Frau Köhnke: Und kennen Sie das Gedicht von Johannes R. Becher? Ich krieg leider nur noch eine Strophe zusammen: » Wenn sich vor Freude rot die Wangen färben, /Dankt man dir, Stalin, und sagt nichts als >DuStalin< noch im Sterben /Und Stalins Hand drückt ihm die Augen zu.«
Frau Menzinger: Jenau, mit Absicht Augen eindrücken, so war der. Und wo ist der gestorben? Im warmen Bettchen, wie alle diese Tyrannen. Belogen und betrogen hat man uns. Und das gleich zweimal. Und jetzt schiebt man uns ab, und die jungen Spunde da unten glauben ooch wieder jeden Stuss. Es war jedenfalls kalt an dem Tag, als wir uns am Stalindenkmal versammelten, um dem teuren Toten zu jedenken. Ick weeß noch, det ick den Kopf tief in den Nacken legen musste, so weit oben war der Kopf. Wie hoch war das Denkmal eigentlich? Zehn Meter?
Frau Köhnke (stakkatohaft): 4,80 Meter, ein Geschenk vom Komsomol an die deutsche Jugend, 1961 abgebaut und eingeschmolzen. Stalin wurde zu einer Tierplastik gegossen und in den Tierpark gestellt – ist das nicht eine schöne Blasphemie? (Kichert.) Frau Menzinger : Welchet Tier war es denn?
Frau Köhnke: Keine Ahnung. Hätte man 1953 behauptet, dass 1961 Stalin in Ungnade fallen würde, keiner hätte es geglaubt. Man kann echt froh sein, dass man nicht Kassandra ist. Mit dem Meer aus Tränen hätte man eine Mineralwasserfabrik aufmachen können. Selbst meine Schulkinder haben geweint, alle. Die kannten Stalin gar nicht.
Frau Menzinger: Sie kannten den doch ooch nich. Wussten Sie, det Stalins zweiter und dritter Zeh linkerseits zusammenjewachsen waren? Det konnte ja nüscht werden mit dem Kommunismus.
Frau Köhnke: Na, das lag ja nun nicht an den Füßen, sondern am System.
Frau Menzinger: System, System, wenn ick det schon höre. Wie sind wir überhaupt auf Stalin gekommen?
Frau Schweickert: Wegen meinem Nachbarn, den ich noch gar nicht kenne.
Frau Menzinger: Naja, denn sollten wir uffhören, unseren Nachbarn madich zu machen. Mein letzter Mann hatte immer Angst, det ick wat Schlechtet über ihn sage.
Frau Köhnke: Na, dann sagen Sie mal was Schlechtes. Angst kann er ja nun nicht mehr haben.
Frau Menzinger: Er fehlt mir nicht. Nur mein zweeter, der fehlt mir. Vor allem im Bett. (Sie kichert wie ein Teenager.) So, und nun woll’n wir mal alle miteinander Schwesternschaft trinken. Trude heeß ick! Eigentlich Gertrud, wie die böse Mutter von Hamlet. Frau Schweickert: Gerda. Zweiter Vorname Maria. Den hat aber nur mein Mann gelegentlich benutzt.
Frau Köhnke: Ilse!
Gerda: »Ilsebilse, keiner will se. Kam der Koch, nahm se doch.« Ilse (gähnt übertrieben wie in einer Boulevardkomödie): Ich glaub, das hat schon der Standesbeamte zu meiner Mutter gesagt. Und was soll ich euch sagen?
Gerda: Dein Mann war Koch!
Ilse: Genau. Zuletzt Chefkoch im Interhotel Stadt Berlin. Bevor er bei unserem ersten Rendezvous nach meinem Namen fragte, wusste ich, welchen Beruf er hatte – er kochte damals noch im Prenzlauer Eck, der Stammkneipe meines Vaters. Ich wollte ihm meinen Namen erst gar nicht sagen, aber als es sich nicht mehr vermeiden ließ und ich ihn nicht anlügen wollte, hat er nichts gesagt, kein Wort, hat es einfach so hingenommen, was mich sehr für ihn eingenommen hat. Später hat sich herausgestellt, er hatte den Spruch noch nie gehört, bei ihnen zu Hause gab’s kein einziges Buch, und Gedichte wurden auch nicht aufgesagt. Gerda: Und hat er’s noch rausbekommen?
Ilse: Kurz nach unserer Verlobung hat er gefragt, ob keiner mich wollte. Einer in der Küche hatte ihn aufgeklärt.
Gerda (neugierig: Und?
Ilse: Ich hatte sieben Verehrer, drei waren absolute Nieten, die kamen gar nicht erst in die engere Wahl. Zwei sind im Krieg gefallen, ein dritter hat mir ein Kind gemacht und ist dann in den Westen getürmt, und der letzte war der Koch.
Gerda: Und was war mit dem Kind?
Ilse: Hab ich wegmachen lassen bei der Engelmacherin in der Marienburger.
Trude: Ach, wie hieß die gleich? Ist später auch nach ’m Westen, bevor sie sie verhaften konnten. Die war ’ne Kurpfuscherin.
Meine Freundin Traudel ist bei der auf ’m Küchentisch beinah
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