Walpurgistag
Skateboard, der ihr heute Nachmittag vors Auto gelaufen ist. »He, Piepel, was machst ’n du hier?«, fragt sie, aber da ist er schon aus der Tür gestürzt. Katrin überlegt einen Moment, ob sie ihn sich schnappen soll. Der hat hier bestimmt keinen besucht. Sie sieht ihn noch quer über die Wiese in Richtung Ring-Center II davonrennen. Als er den Plattenweg erreicht, wirft er sein Brett geschickt auf die Erde, springt in voller Fahrt auf und rollt ohne Unterbrechung über die Ampel. Bei Rot. Dessen Mutter möchte ich auch nicht sein.
Auf der Wiese liegt ein Fernseher, der aussieht, als wäre er aus dem achtzehnten Stock geschmissen worden.
Oben erwartet sie nicht Hauert, sondern ein netter junger Mann. Er gibt ihr neunzig Cent Trinkgeld, Katrins Standardspruch ist »Danke schön, ich wünsche guten Appetit, schönen Abend noch«. Sie traut sich nicht zu fragen, ob Hauert vielleicht aus dem Fenster gesprungen oder anderweitig verstorben ist, aber vielleicht hat er nur seinen Sohn zu Besuch. Oder er ist schwul, was vielleicht erklären könnte, warum er so unfreundlich zu ihr ist.
Es stinkt im Flur, Katrin will so schnell wie möglich hier raus. Der Fahrstuhl hält. Drin steht eine Frau, die sie misstrauisch anschaut. Ungefähr so alt wie sie, etwas größer, aber mit blondiertem Haar. Neben sich hat sie einen großen Abfallbeutel. Wahrscheinlich geht der Müllschlucker im Haus nicht mehr. »Hallo«, sagt Katrin, wie sie das immer macht. Man könnte ja gemeinsam stecken bleiben. Die Frau murmelt so etwas wie die Erwiderung eines Grußes. Katrin stellt sich vor sie und starrt den ganzen Weg nach unten auf das Schild VEB Takraft. Die Fahrstühle der meisten Plattenbauten sind längst von einer Westfirma generalüberholt
worden, hier prangt noch das hässliche braune Sprelacart-Holzimitat. Als der Fahrstuhl im Erdgeschoss hält und die Türen aufgehen, stolpert die Frau von hinten über Katrin, gerade als sie ihre Pizzatasche vom Boden aufheben will. Die Frau entschuldigt sich kurz und eilt dann an ihr vorbei zum Ausgang.
Jedes Mal, wenn Katrin aus diesem Haus raus ist, steigt ihre Laune. Sie lässt den Motor an, im Radio dudeln die Rubettes, und keine drei Minuten später ist sie wieder in der Sonntagstraße.
Sie wirft die Pizzatasche mit Schwung unter die Theke am Ofen. Patrick ist inzwischen eingetroffen. Wenn es das Filmteam gäbe, würde Katrin sagen: »Das ist Patrick, neunzehn, wiederholt die zwölfte Klasse, will mal Sportmanagement oder so was studieren, wie ihr seht, ist er ein gut aussehender, gutmütiger Sonnyboy, dessen griechischem Vater schon bei dem Wort Pizza schlecht wird, aber das kann ihm inzwischen egal sein, denn sein Vater ist vorige Woche zu Hause ausgezogen. Patrick ist ein geborener Manager, kann gut Aufgaben verteilen und schafft es auch, dass die Leute machen, was er sagt.« Er hat ihr sogar mal seine Gedichte gezeigt, obwohl Katrin von Literatur gar keine Ahnung hat. Ihr haben sie gefallen, und sie hat ihm vorgeschlagen, er solle sie vertonen und einspielen und sie würde die Kassette an Kuttner schicken.
In der Küche hat einer Radio Fritz eingestellt, eben fängt Soundgarden an, Katrin putzt weiter an den Lampen. Franziska kommt, mault, weil keine Aufträge da sind, und würde am liebsten gehen. »Heute ist was los in der Stadt, und ich sitz hier rum. Ich habe am Boxhagener Platz schon ’ne Menge Wannen gesehen. Das gibt bestimmt Bambule.« – »Dann sei froh, dass du hier bist. Wenn wir Pech haben und du Glück, kämpfen sie sich bis zu uns durch, und ich kann wieder die Scherben der Fensterscheibe zusammenfegen, während du die Bullen mit Pizza beschmeißt.« Franziska muss lachen. »Sei nicht so abgeklärt«, sagt sie, »bist doch sonst nicht so.« – »Im Gegensatz zu dir habe ich ’ne Revolution mitgemacht, eine im Leben reicht.« – Wieso Revolution, das war eine Konterrevolution, und noch dazu unblutig«, mischt Patrick sich ein. Katrin winkt ab. »Hab keine Lust, das zu vertiefen. Jedenfalls
kotzen mich diese Ritterspiele zur Walpurgisnacht und am 1. Mai an. Wenn ihr anderer Meinung seid, mir egal.«
Ihr fällt auf, dass Franziskas hellblaue Augen und dunkle Haare sehr gut mit dem Outfit von Patrick korrespondieren, sie wären ein schönes Paar und könnten gemeinsam einen eigenen Laden aufmachen. Sie ist sehr fleißig, macht gerade Abi. Ich würde meine Tochter gerne gegen sie eintauschen. Das würde ich sogar dem Filmteam sagen, aber das ist längst abgehauen aus
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